City Bound stellt das vermeintlich Selbstverständliche des Alltags permanent in Frage und schärft somit den Blick für die sozial – räumliche Umwelt. Es lässt die Banalitäten und Perversitäten des urbanen Alltags aus einer völlig neuen Perspektive aufscheinen. Die Grundfiguren und Zielhorizonte einer handlungsorientierten Pädagogik sind es in unserem Fall, die Fassaden des Alltäglichen zu durchschauen, die Muster von gesellschaftlichen Ritualen zu interpretieren und die Codes des sozialräumlichen Mikrokosmos zu decodieren. In diesem Zusammenhang ist City Bound keine Erfindung, sondern nur die logische Weiterentwicklung verschiedener erlebnispädagogischer Lernmodelle. City Bound baut ganz wesentlich auf die Wechselwirkung von „Fleisch und Stein“, also Körper und Stadt. Es ist in seiner Sprunghaftigkeit, räumlichen Variabilität und Flüchtigkeit eine mögliche pädagogische Antwort auf die bizarre Vielfalt des Phänomens Großstadt (vgl. Heckmair/Michl, 2002, S. 191).
„Die TeilnehmerInnen überwinden die eigenen Grenzen und machen Aktionen, die sie so in ihrem Alltag nicht unternehmen würden. Dies bewirkt eine Erweiterung des eigenen Handlungsspielraumes und ermöglicht zukünftiges flexibles Agieren“ (Deubzer/Feige, 2004, S. 133).
Nachfolgend können Sie meine Diplomarbeit über das Thema "City Bound" Selbstwirksamkeit im Alltag erleben einsehen.
Diplomarbeit
ISP, Kontaktstudiengang „Soziale Arbeit“
Dozent: Willy Klawe
Autor: Richard Krauß
An dieser Stelle möchte ich allen Menschen danken, die unterstützend dazu beigetragen haben, dass die vorliegende Diplomarbeit zustande gekommen ist.
Als da wären zunächst meine Lieblingskommilitonin und Freundin Imke Baruth, deren stetiger Zuspruch und positiver Einfluss maßgeblich dazu beigetragen hat, die letzten vier Jahre durchzustehen und zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Danke Imke.
Allen anderen Kommilitonen aus meiner Studiengruppe danke ich für den anregenden Austausch von Fachwissen aus den unterschiedlichsten Berufsfeldern der sozialen Arbeit und einem überwiegend angenehmen Studienverbund während unserer gemeinsamen, für alle mit großen Schwierigkeiten verbundenen, Studienzeit. Danken möchte ich auch allen Lehrenden, die sich alle auf ihre eigene Weise bemüht haben, uns das umfangreiche Wissen der sozialen Arbeit zu vermitteln. Besonders beeinflusst haben mich Sabine Handschuk, Corinna Scherwath, Peter Alberter, Gerald Hüther, Willy Klawe, Timm Kunstreich, Jörg Matzen und Joachim Weber.
Danken möchte ich auch meinen Freundinnen und Freunden, die sich regelmäßig die Zeit genommen haben mir zuzuhören, wenn ich das Bedürfnis, hatte über mein gerade neu erlerntes Fachwissen zu sprechen. Mittlerweile wissen einige von ihnen erstaunlich gut über einzelne Aspekte der sozialen Arbeit Bescheid und auch City Bound ist vielen von ihnen inzwischen ein Begriff. Ebenfalls danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen, durch die ich mich fachlich weiterentwickeln konnte. Hier möchte ich besonders jenen danken, die sich stets die Zeit genommen haben, sich mit mir und meiner Neugier auseinanderzusetzen. An erster Stelle steht hier Kirsten Dose, die mich in schweren Zeiten stark unterstützt hat. Christop Jez, der immer wie bestellt da war, um mir einen neuen Job zu beschaffen.
Wolfram Döller, den ich inhaltlich fachlich, z.T. auch moralisch, als großen Rückhalt für mich erlebt habe.
Ganz besonderer Dank gilt meiner lieben Mutter, die während meiner gesamten Ausbildungszeit hinter mir stand und ohne deren Unterstützung das zurückliegende Studium nicht möglich gewesen wäre.
1. Die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen heute................................... 7
1.1. Erlebnisarmut von Kindern und Jugendlichen.................................................................. 14
1.2. Eigene Praxiserfahrung..................................................................................................... 15
1.3. Zusammenfassung und Ausblick...................................................................................... 16
2. Erfahrung als zentrale Kategorie zur Entwicklung von Selbstwirksamkeit............. 17
2.1. Optimale Erfahrung........................................................................................................... 21
2.2. Resilienz............................................................................................................................ 24
2.3. Partizipation...................................................................................................................... 28
2.4. Zusammenfassung und Ausblick...................................................................................... 29
3. Was ist Erlebnispädagogik?........................................................................................... 30
3.1. Erlebnispädagogische Ansätze in der Großstadt............................................................... 32
3.2. „Personen sind wir da, wo wir Akzente setzen“............................................................... 36
3.3. Eigene Praxiserfahrung mit City Bound........................................................................... 38
3.4. Zusammenfassung und Ausblick...................................................................................... 41
4. Konzept für City Bound................................................................................................. 42
4.1. Ziele.................................................................................................................................. 42
4.2. Zielgruppenbeschreibung (Prävention/Intervention)........................................................ 44
4.3. Angebote........................................................................................................................... 44
4.4. Kooperation mit anderen Einrichtungen........................................................................... 45
4.5. Räumlichkeiten................................................................................................................. 46
4.6. Mitarbeiterkompetenz....................................................................................................... 46
4.7. Rechtliche Aspekte........................................................................................................... 46
4.8. Sicherheit.......................................................................................................................... 48
5. Fazit und Bewertung...................................................................................................... 50
Auf dem Bild, welches das Titelblatt der vorliegenden Diplomarbeit schmückt, bin ich mit einer anderen Teilnehmerin des Erlebnispädagogikseminares „City Bound“ vor der Bayrischen Staatskanzlei in München zu sehen. Fotografiert wurden wir von dem Fahrer, von Herrn Hartmut Mehdorn, dem Chef der Deutschen Bundesbahn, der an diesem Tag offensichtlich einen Termin im hohen Hause hatte. Wir haben uns eigentlich auf ein Interview mit Erwin Huber, dem Leiter der Bayrischen Staatskanzlei, vorbereitet. Doch die Sicherheitskräfte, die hinter einer großen, dicken Scheibe im Eingangsbereich durch eine Gegensprechanlage mit uns redeten, teilten uns freundlich verwundert mit, dass dieser ohne Termin nicht zu sprechen sei. Wir versuchten, einen anderen adäquaten Gesprächspartner für unser Interview zu bekommen, wurden aber abgewiesen. Uns wurde mitgeteilt, dies sei nicht so einfach und wir müssten in jedem Fall einen Termin vereinbaren. Wir haben nicht ernsthaft damit gerechnet sofort zu Erwin Huber durchgelassen zu werden, aber eine komplette Abfuhr, trotz unserer charmanten Hartnäckigkeit, haben wir auch nicht erwartet. Zumindest hofften wir, mit überhaupt jemandem ein Interview führen zu können. Als wir dann frustriert hinausgingen, begegneten wir Hartmut Mehdorn und sprachen ihn sofort an, ob er zu einem Interview bereit wäre. Er freute sich zwar, dass wir ihn gleich erkannt haben, ging aber kopfschüttelnd mit zwei Sicherheitsleuten an uns vorbei. Zurück blieb sein Fahrer, der zwar auch zu keinerlei Auskünften bereit war, zumindest aber noch ein Foto von uns beiden geschossen hat.
Unter normalen Umständen wären wir nie auf die Idee gekommen, mit Erwin Huber sprechen zu wollen. Bei der Verteilung der Aufgaben konnten wir wählen zwischen einem Besuch beim Polizeipräsidenten, dem Leiter vom Bayrischen Rundfunk oder eben dem Leiter der Staatskanzlei. Wir entschieden uns für letzteres, weil es uns als die größte der ausstehenden Herausforderungen erschien. Einmal mit der Aufgabe betraut, hatten wir für die nächsten zwei Stunden nur noch dieses Ziel vor Augen, entschlossen alles nötige zu tun, um es zu erreichen. Als wir danach in der großen Runde, zusammen mit den anderen Teilnehmern unsere Ergebnisse reflektierten, konnten wir zumindest Autogrammkarten von Erwin Huber und Edmund Stoiber liefern. Und unsere Geschichte + Foto von Mehdorn und seinem Fahrer. Wir waren stolz und zufrieden mit unserer Ausbeute. Wir hatten alles gegeben und erlebten am eigenen Leib, das ohnmächtige Gefühl vor einer demokratischen Behörde zu stehen und sich ausgesprochen klein zu fühlen. Wir mussten mit unserer Frustration umgehen und doch hatten wir diesem, relativ aussichtslosen Vorhaben unseren persönlichen Erfolg abgerungen.
In dieser „City Bound“ Woche standen wir ständig vor schwierigen Herausforderungen wie z.B. wildfremde Leute anzusprechen und sie dazu zu bewegen sich fotografieren zu lassen, uns Essen billiger zu verkaufen oder gar zu schenken; wir sind auf dem Marktplatz aufgetreten und haben Stadtgeschichte vorgetragen und vorgespielt; wir haben Zeichen gesetzt, uns von Brücken abgeseilt u.v.a.m. Die Bewältigung dieser Aufgaben war uns fremd, unbequem und zum Teil auch unangenehm, wir fühlten uns meistens nicht kompetent und glaubten uns fehlten die richtigen Umgangsweisen. Immer mussten wir uns selbst überwinden. Aber immer waren es auch spannende und ertragreiche Lernprozesse, hervorgerufen durch die Auseinandersetzung mit den persönlich wechselnden Emotionen. Meine eigene Persönlichkeitsentwicklung schritt in dieser Woche schneller voran, als in vielen anderen Alltagswochen zuvor.
Während meiner Tätigkeit als Erzieher zu Beginn der letzten sieben Jahre wurde ich zunächst mit unterschiedlichen und zum Teil für mich noch sehr unübersichtlichen Herausforderungen im Verhalten von Kindern und Jugendlichen konfrontiert. Im Laufe der Zeit gewann ich an Übersicht und es kristallisierten sich von allen typischen und nicht typischen Verhaltensweisen eine heraus, auf die zu reagieren für mich Anfangs sehr schwierig war, nämlich Aggressivität. Sehr gute Erfahrungen machte ich, indem ich den Jugendlichen viel und umfangreiche Bewegung anbot. Ich benutzte Sport, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Energien auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren und somit abzubauen. Im Verlauf meines Studiums wurde ich auf Erlebnispädagogik aufmerksam und erweiterte meine Strategie der Bewegung um den Faktor „Aufgaben bewältigen“. Sowohl meine persönlichen Erfahrungen, als auch meine Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe haben mich davon überzeugt, dass diese Methode ein sehr guter Weg ist, Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und sie zu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten. Diese Diplomarbeit wird die Grundlage einer „City Bound“ Einrichtung, die ich in Hamburg ins Leben rufen möchte und wird sich unter anderem mit den Fragen beschäftigen: Ist City Bound eine Antwort auf die Erlebnisarmut von Kindern und Jugendlichen in der Großstadt? Und ist City Bound als Konzept gegen die Erlebnisarmut von Kindern und Jugendlichen praktisch einsetzbar?.
Der besseren Verständlichkeit wegen, habe ich im Textverlauf bei Jugendlichen, Lehrern usw. stets die männliche Form gewählt. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint.
Einleitung
Zunächst wird im Folgenden ein Abbild der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen skizziert. Vornehmlich bezüglich dessen, wie sich diese Lebenswirklichkeit im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert hat und was sie auszeichnet. In dieser Schilderung sollen unterschiedliche Probleme deutlich werden, die ich schwerpunktmäßig als Erlebnisarmut konkretisiere. Im weiteren Verlauf werde ich meine Wahrnehmung der Wirklichkeit mit meiner eigenen Praxiserfahrung unterfüttern. Nachdem die Probleme benannt und beschrieben sind, werde ich theoretische Aspekte aufzeigen, die diesen entgegenwirken. Dies ist gleichzeitig die Überleitung zur Methode Erlebnispädagogik und speziell dem Ansatz „City Bound“, der aus meiner Sicht eine adäquate pädagogische Reaktion auf die beschriebene Problematik darstellt. Im vierten Kapitel geht es darum, wie man „City Bound“ in Jugendhilfeeinrichtungen einbauen kann, wie die Zielgruppe aussieht und wie sie erreicht werden kann.
Am Schluss werden die wichtigsten Aussagen diskutiert und in einem Ergebnis zusammengefasst. Ich wünsche dem geneigten Leser viel Freude beim Studieren des vorliegenden Aufsatzes.
1.0. Die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen in der Großstadt heute
Was zeichnet sie aus?
Aufstehen, frühstücken, zur Schule, nach Hause, essen, Hausaufgaben machen, dann endlich mit Freunden treffen, Abendbrot, noch mal raus und ins Bett.
So ähnlich sieht der durchschnittliche Alltag eines durchschnittlichen Jugendlichen aus. Die Begegnungen mit den Erwachsenen an einem solchen Tag sind häufig routinierter Art und ohne besondere Überraschungen, ungünstigstenfalls sieht man sich, als Jugendlicher, Vorhaltungen, Belehrungen und Anforderungen ausgesetzt. Die Eltern haben es oft eilig und sehen dadurch nur, was noch alles erledigt werden muss. Die Lehrer stehen unter dem ständigen Druck, den Lehrplan einhalten zu müssen und vermitteln deshalb schnell, mittels Frontalunterricht und häufig ohne auf den einzelnen Schüler angemessen eingehen zu können.
Dr. Jörg Matzen, Leiter des evangelischen Bildungszentrums Bad Bederkesa, drückt sich hierzu deutlicher aus:
„Ich weiß, dass die Schulen und Lehrkräfte von einer verantwortungslosen Bildungspolitik allein gelassen und mit vielen sinnlosen Aufträgen traktiert werden, aber es rechtfertigt nicht das Ausmaß an Beschämung, Missbilligung und Demütigung von Kindern, das zum deutschen Schulalltag gehört“ (Matzen, 2003, S. 5).
Der Jugendliche steht seinerseits unter dem Druck, dem Lehrstoff folgen und gute Zensuren schreiben zu müssen, damit er versetzt wird oder den Abschluss schafft.
Bleiben also noch die Begegnungen mit Gleichaltrigen in Schule und Freizeit. Hat der Jugendliche Glück, dann ist er bei seinen Mitschülern anerkannt und doch muss er für diese Anerkennung täglich kämpfen. Ist er eher Außenseiter, kommt zu seinem Leistungsdruck noch die Angst nicht zur Gruppe zu gehören und gehänselt zu werden hinzu. Bis zu dieser Stelle kommt also bei einem Jugendlichen schon einiges an Belastung zusammen. Angst vor schlechten Zensuren, die Versetzung nicht zu schaffen und Angst vor den Konsequenzen der Eltern. Dazu kommt die Angst anders zu sein als gleichaltrige Jugendliche; dümmer, hässlicher, ungeschickter... . Ein solcher Druck ist eine ausgesprochen ungünstige Voraussetzung für die Entwicklungsfähigkeit des Jugendlichen. Unter Druck wird der Denkapparat blockiert und schaltet um auf die Notprogramme: Angst, Flucht, Erstarrung. Erst wenn der Stress vorbei ist, kann das Hirn wieder normal arbeiten. Man kann sich die negativen Auswirkungen vorstellen, wenn Kinder unter ständigen Erschütterungen in der Familie, der Schule oder dem Geflimmer eines Fernsehers aufwachsen (vgl. Hüther, 2005, S.17).
In der Freizeit trifft er sich mit seinen Freunden um sich auszutauschen und seine sozialen Beziehungen zu pflegen. Vielleicht geht er aber auch seinen Hobbys nach oder vertreibt sich die Zeit mit Fernsehgucken oder Videospielen.
Diese Ausführungen erheben selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und doch sind sie ein grobes Abbild der Lebenswirklichkeit vieler Jugendlicher in der Großstadt.
Natürlich gibt es Jugendliche, die durch ihre soziale Herkunft günstigere Voraussetzungen für ihre Entwicklung vorfinden. Ein Großteil der Jugendlichen trifft es jedoch eher schlechter. Ihre soziale Herkunft und die Belastung der Eltern im täglichen Lebenskampf bieten ihnen oft ungünstige Bedingungen für eine optimale Persönlichkeitsentwicklung. 600000 Kinder leiden in Deutschland als Folge ihrer sozialen Benachteiligung an Fehlernährung, Infektionen und Depressionen, beklagt Klaus Gritz, der Leiter des Berufsverbandes der Kinder und Jugendärzte, in der Zeitschrift Ver.di Publik. Und eine Studie der Universität Marburg belegt den Teufelskreis zwischen Armut und Krankheit. Kinder, die in Armut aufwachsen, haben eine schlechtere Gesundheit und somit auch schlechtere Startchancen für ihr Leben (vgl. Gillen, 2004, S. 161/162).
Städtisches Umfeld bedeutet für Jugendliche überwiegend Erlebnisarmut.
Erlebnisarmut durch einen straff organisierten Alltag, der keinen Platz bietet für echte Herausforderungen. Erlebnisarmut durch die Funktionalisierung von Flächen und Räumen die größtenteils nicht für Kinder und Jugendliche vorgesehen sind. Erlebnisarmut auch, weil keine Zeit und keine Anregung mehr gegeben wird, selbst zu experimentieren, Herausforderungen zu suchen und zu meistern und letztlich sogar den Umgang mit Problemen als reizvoll zu empfinden.
Häufig genug suchen Kinder und Jugendliche eher nach Zerstreuung, weil sie verlernen, wie viel Spaß es macht, in der Welt aktiv zu sein. Es ist ein Rückzug aus der Wirklichkeit, in der es immer schwerer gelingt Erfolge zu erzielen, Anerkennung zu bekommen und absehbare Ziele zu erreichen. Laut der dreizehnten Shell Jugendstudie liegt der Fernsehkonsum bei 30% der Kinder und Jugendlichen Wochentags bei 2 – 3 Std. tägl., am Wochenende bei 3 – 5 Std. tägl., 34% der Kinder und Jugendlichen haben einen „hohen“ TV-Konsum und sehen Wochentags 4 Std. und mehr und am Wochenende 6 Std. und mehr fernsehen, ein zweiter Wert sei in diesem Zusammenhang noch erwähnt, Computerspiele werden von 68% der 15-17 Jährigen überproportional häufig benutzt (vgl. Jugend 2000, 2000, S. 202-205). Fernsehgucken wirkt betäubend auf Körper und Geist. Das belegen u.a. die Ergebnisse einer Untersuchung von Fernsehkonsumenten. Die Probanden dieser Untersuchung beschrieben ihre Erfahrung beim Fernsehen als passiv, entspannend und geringe Konzentration erfordernd. Der Einfluss auf die Wahrnehmung des Menschen wird folgendermaßen zusammengefasst: Starker Konsum von simuliertem Schmerz betäubt ebenso wie simulierter Sex das Wahrnehmungsvermögen. Die Menschen werden passiver und ihre Erfahrungen nehmen in der Intensität ab. Sie verlieren zunehmend das Gefühl für ihre Umwelt (vgl. Kubey/Csikszentmihalyi, 1990, S. 175).
Christian Pfeiffer spricht in diesem Zusammenhang von Medienverwahrlosung und zieht in einem Aufsatz Rückschlüsse auf Schulversagen und Jugenddelinquenz.
Nach Feststellungen des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest, verfügt inzwischen etwa die Hälfte der 13 – 15 Jährigen über einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer. Von den 16/17 Jährigen sind es knapp 70% und selbst von den 6 Jährigen in unserem Land ist schon fast jeder vierte dabei. Durch die Verfügbarkeit über einen eigenen Fernseher erhöht sich die tägliche Fernsehdauer um etwa eine Stunde – werktags von zweieinhalb auf etwa dreieinhalb Stunden und an Wochenenden auf vier bis fünf Stunden.
Diese Kinder verbringen damit pro Jahr mehr Zeit vor dem Fernseher als im Schulunterricht! Weiterhin schauen vor allem die Jungen Filme, die von Experten des Jugendschutzes als jugendgefährdend eingestuft wurden und deswegen erst nach 23°°Uhr gesendet werden dürfen. Pfeiffer beschreibt die Auswirkungen eines solchen Fernsehkonsums folgendermaßen:
Bei den Betroffenen verarmt ihre soziale Existenz. Wer pro Tag in seiner Freizeit mehr als vier Stunden vor dem Fernseher oder dem Computer verbringt, der versäumt das Leben. Er hat keine Zeit mehr für soziale Aktivitäten und deshalb wird seine soziale Kompetenz nicht voll entwickelt. Selbst wenn er nur Astrid Lindgren Filme schauen würde. „Übung macht nur dann den Meister, wenn sie im realen Leben stattfindet und nicht nur in der Phantasie“(Pfeiffer, 2004, S. 5). Stundenlanges Fernsehgucken beinhaltet Bewegungsmangel und dieser wiederum schädigt Körper und Geist. Die Entwicklung des Hirns leidet, wenn sich Kinder zu wenig körperlich austoben. Hirnforscher berichten von den Auswirkungen exzessiven Fernsehkonsums auf die Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen. Das was die Kinder in der Schule an Schulwissen hören, landet zunächst im Kurzzeitgedächtnis. Die Überführung in das Langzeitgedächtnis, also in gesichertes Wissen, dauert danach mindestens zwölf Stunden und wird entscheidend davon beeinflusst, was das Kind in den Stunden nach dem Erlernen des Schulwissens emotional erlebt. Auf starke Gefühle reagiert das Gehirn sehr sensibel. Die Gedächtnisarbeit des Hirns konzentriert sich auf solche Eindrücke, die es emotional erheblich bewegen. Nachmittags nun aufwühlende und schockierende Filmszenen anzuschauen hat zur Folge, dass das, was vorher im Kurzzeitgedächtnis gespeichert wurde, verdrängt wird. Die schulischen Lerninhalte verblassen angesichts der emotionalen Wucht der Bilder. In dieser Folge verschlechtern sich logischerweise die Schulleistungen, was auch die Schulstatistiken der letzten zehn Jahre bestätigen. Schlechte Noten wiederum erhöhen das Risiko in die Jugendkriminalität abzurutschen. Das zeigt sich in polizeilichen und kriminologischen Statistiken. In der Entwicklung der Gewaltkriminalität hat sich die Tatverdächtigenquote seit Mitte der achtziger Jahre um fast das dreifache erhöht. Ergo, wer in der Schule keine Erfolgserlebnisse hat, sucht sie sich eben woanders. Pfeiffer folgert aus den genannten Missständen u.a. das wir es schaffen müssen, den Kindern und Jugendlichen wieder Lust auf das Leben zu vermitteln. Dies soll sie davor bewahren, ihre Freizeit vornehmlich mit problematischem Medienverhalten auszufüllen (vgl. Pfeiffer, 2004, S. 5).
Schon vor ca. 20 Jahren schrieben Klawe, Fischer und Thiesen:
“Wir alle sind einer ständigen Reizüberflutung durch die vielfältigen Medien und Umweltreize der Industriegesellschaft ausgesetzt, die zunehmend an die Stelle unseres eigenen, unmittelbaren Erlebens treten. Auch für viele Jugendliche ist damit die Umwelt reizarm geworden. Sie erleben Reizarmut, weil sie vieles nicht mehr erleben und unmittelbar erfahren können. Ihre Sinne sind nur noch über den Kopf beansprucht, in der Wahrnehmung der über Medien vermittelten Erfahrungen. An die Stelle eigenen Abenteuers tritt der Fernseh- oder Filmheld, der stellvertretend die Abenteuer durchlebt“ (Fischer/Klawe/Thiesen, 1997, S. 37).
Was hier vor zwei Jahrzehnten festgestellt wurde, hat sich als ein Trend erwiesen, der sich bis in die heutige Zeit massiv verstärkt hat.
Ein weiteres Indiz für den Rückzug aus der Realität ist der im letzten Jahrzehnt massiv angestiegen Drogenkonsum bei Jugendlichen. Die Konfrontation und Erprobung mit Drogen in der Adoleszenz war von je her ein Thema. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang jedoch der oft alltägliche Einsatz von Marihuana, um sich der Lebenswirklichkeit zu entziehen, Probleme zu verdrängen und sich in einen „kokonisierten“ und somit gefühlt schützenden Zustand, zu begeben.
Vieles hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Umwelt von Großstädten verändert.
Städtischer Raum wurde im vergangenen Jahrhundert unter dem Einfluss der steigenden Mobilität fast ausschließlich danach bemessen, wie leicht wir ihn durchqueren können. Die Planung einer Stadt wird größtenteils der bloßen Funktion der Bewegung untergeordnet. Eine sich verändernde Geographie der Städte hat Einfluss auf die Menschen, in Bezug auf die räumliche Beziehung menschlicher Körper und die Erfahrung von Geschwindigkeit. Als die
„Folgen großen urbanen Wandels unserer Zeit“ beschreibt der Soziologe Richard Sennett unter anderem, dass die Bewohner die stark verdichteten urbanen Zentren verlassen und in dünner besiedelte und strukturlosere Bezirke ziehen. Sie weichen aus in die Vorstädte mit Einkaufszentren, Bürokomplexen und Gewerbeparks. Sowohl die Stadtbewohner als auch die Vorstadtbewohner verbringen nun vermehrt ihre Freizeit mit dem Konsum einer fiktiven Wirklichkeit z.B. von Gewaltdarstellung in klimatisierten und bequemen Sälen der modernen Kinos, im Einkaufszentrum der Vorstadt. Sennett folgert, die Wirkung aus diesem Verhalten ist: „den Sinn für taktile Realität zu schwächen und den Körper ruhig zu stellen“(Sennett, 1995, S. 24).
Vor allem aber trägt die körperliche Erfahrung von Geschwindigkeit zu diesem modernen Phänomen bei. Durch die Möglichkeit der schnellen Fortbewegung, wird der städtische Raum nichtssagend und weniger stimulierend. Die Fahrenden wollen den Raum durchqueren und nicht durch ihn angeregt werden. Auf diese Weise bestärkt sich das Empfinden der Loslösung vom Raum (vgl. Sennett, 1995, S. 24).
„So hat die neue Geographie praktisch eine Entsprechung in den Massenmedien. Der Fahrende erfährt die Welt wie der Fernsehzuschauer gleichsam unter Narkose; Der Körper bewegt sich passiv, desensibilisiert im Raum, auf Ziele zu, die in einer zersplitterten und diskontinuierlichen städtischen Geographie liegen“ (Sennett, 1995, S. 25).
Wenn Sennett in diesem Zusammenhang von Menschen spricht, trifft das in ähnlicher Weise natürlich auch auf die heutigen Kinder und Jugendlichen zu. Diese fahren zwar noch nicht aktiv Auto, bewegen sich aber in Autos, Bussen und U-Bahnen fort und fahren z.T. auch motorisierte Zweiräder.
„Im Allgemeinen bewegt sich der Mensch in der Großstadt mit hoher Geschwindigkeit fort, wobei der Körper vorwiegend passiv bleibt. In U-Bahnen, Aufzügen, Rolltreppen hält sich die physische Bewegung in engen Grenzen, selbst in einer schnell gefahrenen Kurve auf der Stadtautobahn ist es allenfalls eine kurze Armbewegung und eine gewisse Anspannung der Oberarmmuskulatur beim Halten des Lenkrades, die körperlich abgefordert wird“ (Heckmair/Michl, 2002, S.190).
Die Straßen der Großstadt sind kein Platz zum Spielen für Kinder und Jugendliche. Seit Anfang der sechziger Jahre sind sie im Laufe der Zeit immer gefährlicher geworden. Verkehr und Kriminalität sind hauptsächlich dafür verantwortlich, dass Erwachsene die Kindheit in der Großstadt immer mehr von unkontrollierbaren Orten (wie die Straße, oder ähnliche öffentliche Plätze) hin zu kontrollierbaren Orten (wie Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, Spielplätze oder künstliche Natur vor der eigenen Haustür) verlagert haben
(vgl. Zeiher/Zeiher, 1994, S. 20). Wie wichtig den Menschen ihre Mobilität ist, zeigt die Tatsache, dass für Autos in der Großstadt heute viermal so viel Platz zur Verfügung steht (durchschnittlich 12qm pro Kfz) wie für Kinder (im Schnitt 4qm pro Kind). Eine solche Mobilität kostet viel Platz und es steht, angesichts der heutigen Verkehrsdichte in Form von Staus und Parkplatzmangel, über dieser Entwicklung die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Die Frage lautet: Steht die Einschränkung unseres Lebensraums in angemessener Relation zum Vorteil, den wir durch die Mobilität haben? Gleichwohl bleibt die Frage an dieser Stelle unbeantwortet, denn es bedürfte eines separaten Aufsatzes, ihr adäquat nachzugehen. Sie bleibt dennoch in einer Kette unterschiedlicher Faktoren bestehen, um auf diese Weise auch auf das Problem der eingeschränkten Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen in der Großstadt hinzuweisen.
Kinder und Jugendliche eignen sich ihren Lebensraum auf ihre eigene Weise an. Sie bekommen aber immer weniger die Chance rechtzeitig zu trainieren, wie man sich solche Räume auf positive Weise aneignen kann. Die Option in einfachen, positiven Kontakt zu anderen Menschen zu treten, ist auf der Liste der sozialen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen (übrigens auch bei vielen Erwachsenen) immer seltener aufzufinden. Oft machen sie die Erfahrung, treffen sie sich an öffentlichen Orten um sich auszutauschen, zu rauchen und sich jugendlich zu benehmen, dass sie von Erwachsenen missbilligend angeschaut werden oder ihnen abfällige Bemerkungen entgegengebracht werden. Natürlich haben Jugendliche ihr eigenes Bild von Erwachsenen, die sie auf der Straße treffen und umgekehrt. Die Unterschiede und Vorbehalte sind gegenseitig häufig so groß, dass keine Begegnung zustande kommt (vgl. Krauß, 2004, S. 7). Man kann gelegentlich in südlichen Ländern Kinder noch an Orten sehen, an denen sie bei uns kaum noch anzutreffen sind. Mitten in der Stadt, auf Marktplätzen, zwischen Läden und Cafés spielen sie ihre Spiele, sogar spät am Abend. In Deutschland geht der Trend dahin, solche Orte zu bereinigen und die Kinder daraus zu entfernen (vgl. Bühler-Niederberger, 2003, S. 44). Viele Wohngebiete sind für Kinder anregungsarm geworden, durch die Beschränkung auf die Wohnfunktion. Die Kinder wurden verdrängt durch den Autoverkehr, durch die Gepflegtheit der Gärten und Parks und das Zugebautwerden der freien Grundstücke (vgl. Zeiher/Zeiher, 1994, S.20).
Wie eignen sich Kinder ihren Lebensraum an? Vor vierzig Jahren wurde dieser Prozess als konzentrische Ausweitung der räumlichen Welt von Kindern beschrieben. Zunächst erkunden sie krabbelnd die Wohnung, dann schon aufrechter, das Haus mit Nachbarn und schließlich ihren Stadtteil und darüber hinaus. In ländlichen Regionen kann dieses Verhalten auch heute noch so stattfinden. In der heutigen Großstadt jedoch erschließt sich den Kindern ihr Lebensraum nicht mehr als zusammenhängendes Areal, sondern als eine räumliche Welt, in der viele Funktionsräume zu voneinander getrennten Inseln geworden sind. Der verinselte Lebensraum besteht aus einzelnen separaten Stücken, die wie Inseln in einem größer gewordenen Gesamtraum verstreut sind, der als ganzer bedeutungslos und weitgehend unbekannt bleibt. Kinder weiten also nicht einen zusammenhängenden Lebensraum allmählich aus, entsprechend dem mit dem Alter wachsenden physischen und psychischen Voraussetzungen, sondern sie leben in einem verinselten Lebensraum, in dem sie von ihren Eltern zu den Inseln transportiert werden. Zu Wohnungen von Freunden und Verwandten, zum Spielplatz, zu Kinder und Jugendeinrichtungen, zum Sporttraining, zu Einkaufsorten in der Innenstadt, zum Wochenend- und Urlaubsort (vgl. Zeiher/Zeiher, 1994, S.27). Zur Zeit gibt es im Internet die Aktion „Go to School!“. Es ist ein Aufruf an Kinder zu Fuß zur Schule zu gehen. Eine Konsequenz aus der Erkenntnis, dass Kinder ihre unmittelbare Umgebung kaum noch angemessen wahrnehmen. Man hat in einer Studie Kinder ihren Schulweg malen lassen. Diejenigen Kinder, die von ihren Eltern täglich mit dem Auto zur Schule gefahren werden, malten durchweg eine mehr oder weniger kurvige Straße an deren Ende sich das Schulgebäude befinden. Bei den Kindern die zu Fuß zur Schule gingen, waren die Bilder gefüllt mit unterschiedlichsten Gebäuden und Plätzen am Wegesrand. Man weiß inzwischen, dass heute viele Kinder auf Grund von Bewegungsmangel bestimmte motorische Fähigkeiten verloren haben. Irritiert berichten Pädagogen, dass die von ihnen betreuten Kinder nicht rückwärts gehen können. Ich bin überzeugt, dass Kinder noch ganz andere Fähigkeiten (positives, vertrautes Gefühl in ihrer eigenen Umgebung, Kommunikation und Kontakt zu den Menschen in ihrer Umgebung...) verlieren, wenn alle an der Erziehung beteiligten an dieser Stelle nicht entgegen wirken. Dass sich Kinder scheinbar wie selbstverständlich die neuesten technologischen Errungenschaften (Computer, Internet, Handy...) aneignen, ist zunächst positiv festzustellen. Parallel zu diesem Trend, geht das, was man in der heutigen Berufswelt als Soft Skills bezeichnet, nämlich zwischenmenschliche Fähigkeiten, vermehrt zurück. Kinder und Jugendliche verändern durch die aktuellen technischen Möglichkeiten ihr Kommunikationsverhalten. Durch Chaten und Simsen werden wichtige kommunikatorische Herausforderungen wie der Small Talk im direkten Kontakt oder das Telefonat weniger häufig geübt. Zurück bleiben absurd anmutende Szenen, wie man sie immer öfter zu sehen bekommt: Gruppen von Jugendlichen sitzen zusammen, doch sie sprechen nicht miteinander, stattdessen sind sie alle über ihr Handy (SMS) mit jemand anderem in Kontakt. Exakt dieses Phänomen durfte ich schon mehrmals beobachten, zweimal auch schon dabei sein. Und ich kann sagen, es ist wirklich still in solchen Runden.
1.1. Erlebnisarmut von Kindern und Jugendlichen
Was heißt erleben?
„Das Erlebnis ist ein Ereignis im individuellen Leben eines Menschen, dass sich vom Alltag des Erlebenden so sehr unterscheidet, dass es ihm lange im Gedächtnis bleibt. Ereignisse können befriedigender, aufregender oder traumatisierender Natur sein. Ein Erlebnis unterscheidet sich vom Ereignis dadurch, dass es vorrangig vom Erlebenden selbst als besonders empfunden wird: was der eine aufgeregt als Erlebnis schildert, kann beim anderen nur ein gelangweiltes Gähnen hervorrufen. So wird ein Besucher eines Rockkonzertes, bei dem er zum ersten Mal im Leben seinen Star live sieht, den Abend als besonderes Erlebnis verbuchen, ganz im Gegensatz zu den Helfern des Rockstars, die das gleiche Konzert dutzende von Tagen hintereinander begleiten müssen (aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie im Internet)“.
Laut Brockhaus ist das Erleben: „das subjektive innewerden von Vorgängen..., besonders von Inhalten (Erlebnissen), die als bedeutsam empfunden werden“(Bittner, 1995, S. 190). Das Erleben ist, wie die Wahrnehmung selbst, wohl das Subjektivste dessen wir Menschen uns gewahr werden. So gibt es bei Unfallzeugen, welche denselben Unfall aus derselben Entfernung beobachteten, völlig unterschiedliche Versionen des Geschehenen. Menschen kommen aus einem Theaterstück und laut ihren Erzählungen können sie unmöglich dieselbe Aufführung gesehen haben. Das Ferienzeltlager war für das eine Kind spannend und die Zeit verging wie im Flug, für den Zeltnachbarn jedoch stinklangweilig und hätte gerne früher zuende sein können usw.
Erleben ist ein Austausch des inneren Zustandes mit dem, was um einen herum passiert. Es ist die Interaktion der eigenen Gefühle mit der Umwelt. Eine Situation kann nur zu einem Erlebnis werden, wenn sie die eigenen Gefühle anspricht. Wenn sie die erlebende Person gefühlsmäßig berührt. Alles andere ist lediglich das Vergehen von Zeit. Das Erlebnis hebt sich ab vom Alltag, von der Routine. Es ist narrativ und zeitlich begrenzt, hat einen Anfang und ein Ende. Es reiht sich ein in eine Vielzahl von Erlebnissen, die in der Summe dann die Erfahrung ergeben. Das heißt, je mehr Erlebnisse wir erlebt haben und je unterschiedlicher diese Erlebnisse waren, desto größer und umfangreicher wird unser Erfahrungsschatz. Letzthin ist die menschliche Biographie eine Aneinanderreihung von Erlebnissen, die wir zu einem großen Teil selbst beeinflussen können. Einzelne Erlebnisse entscheiden am Ende darüber, ob wir das Gefühl haben, etwas aus unserem Leben zu machen, oder ob wir uns, wie Richard Sennett sich ausdrückt „ der Ziellosigkeit (Drift) aussetzen, die das tiefste Gefühl der Unzulänglichkeit heraufbeschwört- das Versagen etwas aus seinem Leben gemacht zu haben“(Sennett, 2000, S. 161). So wie man der Autor seiner Biographie ist, wenn man sie niederschreibt, ist man es vorher im Leben gewesen, in dem man sich weitgehend aussucht, was man erlebt. So bin ich dann der Autor meiner erlebten Lebensgeschichte. Was ist aber mit dem Erlebnis selbst? Das Kind erlebt einen Unfall oder bleibt in der Schule sitzen, ist es Autor dieser kritischen Erlebnisse? Es hat sich natürlich nicht vorgenommen in einen Unfall zu geraten oder sitzen zu bleiben, aber irgendetwas in ihm war wohl maßgeblich daran beteiligt, dass es so gekommen ist. Die Psychoanalyse gibt die Antwort über den Zusammenhang zwischen den Lebensgeschehnissen und der Interpretation der Fehlleistungen. Hat z.B. das Kind hat den Unfall gemacht, weil es irgendwo nicht hinwollte, oder ist es sitzen geblieben, weil es unbewusst vielleicht das Gefühl hatte, eine langsamere Gangart würde ihm besser tun als der pausenlose Schulstress. Also entscheidet „das Unbewusste“ über die Zusammensetzung der Umstände. Das hängt zumindest davon ab mit welcher Eindringlichkeit wir leben, ob wir mit allen Sinnen bei der Sache sind. Wenn ich das, was mir im Leben passiert, mit der angemessenen Eindringlichkeit erlebe, gewinnt zugleich mein Ich seine wahre Tiefe. Dazu braucht es keine spektakulären und dramatischen Lebensereignisse. Wer etwas begreift und zugleich erlebt, dass er es begreift, der gerät in eine Bewegung der ganzen Person. Ein tiefes Erlebnis ist eins, welches meine eigene Tiefe wach ruft, zum Leben ruft, das mich auf eine bisher ungekannte Weise fühlen lässt: ich bin (vgl. Bittner, 1995, S. 201).
1.2. Eigene Praxiserfahrung
Als Erzieher in einem Kinderheim habe ich 12 Jugendliche zwischen 15 – 21 Jahren betreut.
Diese Jugendlichen waren fast den kompletten Tag über eingespannt. Bis zum Schulschluss gab es nur die kleinen und großen Pausen, in denen sie keine Ruhe finden. Nach dem Mittagessen Hausaufgaben machen, den häuslichen Pflichten nachkommen, Termine erledigen, zum Verein gehen etc. Meine Wahrnehmung ihres Tageslablaufs war, dass sie häufig bis zum schlafen gehen unter Menschen sind und keine Langeweile aufkommt. Langeweile jedoch ist wichtig, um sich selbst zu spüren, über sich selbst nachzudenken, nicht permanent mit seinen Gedanken im Außen zu sein und nicht zuletzt damit aus einem selbst heraus etwas Neues entstehen kann. Nun ist es aber nicht so, dass die Jugendlichen einzig aufgrund ihrer äußeren Umstände keine Zeit für sich finden, sondern sie zerstreuen sich freiwillig mit anderen Jugendlichen um, anstatt sich zu langweilen, die Zeit totzuschlagen. Wenn ich mit Kollegen oder den Jugendlichen darüber sprach und nach Gründen forschte, hörte ich von ersteren: „die wissen einfach nichts mit sich anzufangen“ und die Jugendlichen antworteten tendenziell: „ich kann nicht alleine sein, denn dann kommen so viele schlechte Gefühle hoch“. Und in der Tat meinen auch Hüther und Csikszentmihalyi, sobald der Mensch zur Ruhe kommt und „nichts“ macht, d.h. seine Aufmerksamkeit auf nichts Bestimmtes lenkt, drängen sich schlechte Gedanken in den Fordergrund (vgl. Hüther, 2004/ M. Csikszentmihalyi, 2004). Die häufigsten Aussagen, die ich im Laufe des letzten Jahrzehnts von Erwachsenen, sowohl von Fachleuten als auch von Nichtfachleuten, bezüglich einer allgemeinen Problemlage von Jugendlichen gehört habe, waren: Die Jugendlichen
· Hängen nur rum und fangen dann an Quatsch zu machen
· Müssen von der Straße weg
· Wissen nichts mit sich anzufangen
· Haben keinen Respekt mehr usw.
Und auch die Jugendlichen sehen die Probleme z.T. sehr ähnlich. Die Frage muss also lauten:
„Wie können alle an der Erziehung der Jugendlichen beteiligten Personen auf diese Probleme reagieren?“
1.3. Zusammenfassung und Ausblick
Jugendliche stehen heute durch vielfältige Alltagseinflüsse und Anforderungen unter starkem Leistungs- und Lebensdruck. Gepaart mit den Entwicklungsanforderungen der Adoleszenz, reagieren viele auf solche Überforderungen mit einem Rückzug in Umstände, in denen sie ihren Selbstwert mehr spüren, oder sie zumindest der Demütigung des Nichtkönnens weniger ausgesetzt sind. Die Erfahrung, dass Lernen grundsätzlich positiv sein kann, machen Jugendliche selten und es wird ihnen durch die Menschen in ihrer Umgebung auch meist nicht so vermittelt. Anforderungen des Lebens als bewältigbare Herausforderungen mit Freude anzunehmen, wird ihnen häufig durch starre Erwachsenenstrukturen verhagelt. Das Leben ist zu ernst, als dass es Freude machen könnte, Probleme zu lösen. Das ist oft die resignierte Botschaft, die dahinter steckt. Um Kinder und Jugendliche jedoch auf das Leben vorzubereiten, muss man ihnen einen Grund geben, sich darauf zu freuen.
Das Motto meines Erlebnispädagogikausbilders Peter Alberter, Leiter des KAP Instituts in Regensburg, lautet:
„Wer fürs Leben motivieren will, muss den Alltag abenteuerlich gestalten.“
Und trifft damit Nagel auf den Kopf. Lust und Spaß soll der Alltag bereiten, der Umgang mit schwierigen Situationen inbegriffen. Kinder und Jugendliche brauchen Handlungsmöglichkeiten, um einen solchen Umgang zu erlernen. Dazu bedarf es bestimmter Voraussetzungen, um die es im nachfolgenden Kapitel gehen soll.
2.0. Erfahrung als zentrale Kategorie von Selbstwirksamkeit
„Die Erfahrungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens gemacht hat, sind fest in seinem Gehirn verankert, sie bestimmen seine Erwartungen, sie lenken seine Aufmerksamkeit in eine ganz bestimmte Richtung, sie legen fest, wie er das, was er erlebt, bewertet, und wie er auf das reagiert, was ihn umgibt und auf ihn einstürmt“ (Gerald Hüther, 2004, S. 12).
Der Neurobiologe Hüther setzt sich in seinem Buch mit der Entwicklung des menschlichen Gehirns auseinander und kommt u.a. zu folgenden, für diesen Aufsatz relevanten, Schlüssen:
- Der wichtigste und für die Nutzung der im Gehirn angelegten neuronalen Netzwerke und Nervenzellen am nachhaltigsten wirksame Einfluss ist die Erfahrung.
- Das menschliche Gehirn entwickelt sich so, wie wir es benutzen, bis an unser Lebensende.
- Das menschliche Gehirn entwickelt sich am optimalsten unter dem Einfluss von Problemen, neuen Aufgaben und Herausforderungen.
Diese Erkenntnisse möchte ich nun etwas näher beleuchten. Mit dem Begriff Erfahrung meint Gerald Hüther, dass wir im Laufe unseres Lebens für die Lösung von Problemen Strategien im Denken und Handeln entwickeln. Diese Strategien bewerten wir als entweder geeignet oder ungeeignet, je nachdem wie erfolgreich sie waren. Das Wissen über erfolgreiche oder erfolglose Strategien verankert sich im Gedächtnis eines Individuums und so werden die Strategien, die sich immer wieder als erfolgreich bestätigen auch in Zukunft für die Lösung von Problemen eingesetzt. Solche Erfahrungen sind immer das Resultat der subjektiven Bewertung der eigenen Reaktionen auf wahrgenommene und als bedeutend eingeschätzte Veränderungen der Außenwelt. Sie unterscheiden sich darin von allen (passiven) Erlebnissen und (passiv) übernommenen Kenntnissen und Fertigkeiten, denen kein oder noch kein Bedeutungsgehalt für die eigene Lebensbewältigung beigemessen wird. Aufgrund der normalerweise bereits während der frühkindlichen Entwicklung stattfindenden und im späteren Leben aktiv vollzogenen Einbettung des Menschen in ein immer komplexer werdendes soziales Beziehungsgefüge, sind die wichtigsten Erfahrungen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens machen kann, psychosozialer Natur.
Das, was uns bei all unseren Entscheidungen leitet, ist nicht unser Geist oder unser Bewusstsein, auch nicht unser auswendig gelerntes oder von fragwürdigen Quellen übernommenes Wissen, sondern die Erfahrungen, die wir während unserer bisherigen Entwicklung gesammelt haben. So sind diese individuell gemachten Erfahrungen in gewisser Weise der wichtigste und wertvollste Schatz, den ein Mensch besitzt (vgl. Gerald Hüther, 2004, S. 94).
Das Gehirn des Menschen ist am tiefgreifendsten und am nachhaltigsten während der Phase der Hirnentwicklung programmierbar, d.h. die wichtigsten Installationen erfolgen während der frühen Kindheit und im Jugendalter. Durch die Erfahrungen der Vergangenheit haben sich bestimmte neuronale Verschaltungen stabilisiert.
„Nichts im Hirn bleibt so, wie es ist, wenn es nicht immer wieder so genutzt wird wie bisher. Und nichts im Hirn kann sich weiterentwickeln und zunehmend komplexer werden, wenn es keine neuen Aufgaben zu lösen, keine neuen Anforderungen zu bewältigen gibt“ (Hüther, 2004, S. 25).
Unser Gehirn ist ein kompliziertes Denk- und Erinnerungsorgan, ein zentrales Koordinationssystem zur Steuerung vitaler Körperfunktionen und komplexer Bewegungsabläufe und es ist dazu da, Wahrnehmungen aus unserer äußeren Lebenswelt und unserer inneren Körperwelt zu verarbeiten und entweder in unspezifische Bilder, Gefühle und Träume oder aber in spezifische Reaktionen umzusetzen. Keine dieser Fähigkeiten ist bei der Benutzung unseres Gehirns besonders wichtig, sondern es kommt auf alles gleichermaßen an. Wir sollten also versuchen, die verschiedenartigen Fähigkeiten unseres Gehirns möglichst gleichzeitig zu benutzen und gleichermaßen auszubauen.
Im Gegensatz zum Tier kann sich der Mensch frei entscheiden wofür er sein Gehirn benutzen will und was er daraus machen möchte. Sein Gehirn wird sich anschließend in seiner inneren Organisation immer besser an die von ihm verlangten Leistungen anpassen. Egal ob er Gitarre spielt, jonglieren lernt oder einfach die bunten Bilder im Fernsehen auf sich einrieseln lässt, es entsteht im Gehirn eine neuronale Verschaltung, die immer dicker wird, je nachdem wie intensiv wir einen einmal eingeschlagenen Weg verfolgen. Je stabiler die eingefahrenen Bahnen sind, desto schwerer fällt es, sie später wieder zu verlassen. Wir müssen uns entscheiden, wie und wofür wir unser Gehirn benutzen. Wenn wir keine solche Entscheidung treffen, sondern die Benutzung lediglich von den jeweiligen Gegebenheiten, Möglichkeiten und Notwendigkeiten abhängig machen unter denen wir aufwachsen und leben, machen wir uns zu Gefangenen unserer passiv übernommenen Anlagen und vorgefundenen Verhältnisse. Wir können also selbstbestimmter leben, wenn wir uns so früh und umsichtig wie möglich entscheiden, wie und wofür wir unser Gehirn benutzen wollen.
„Eine solch umsichtige Entscheidung über die Benutzung des Gehirns, die all das einbezieht, was sich an Wichtigem bisher bereits ereignet hat und was sich in Zukunft noch ereignen kann, lässt sich weder allein aus dem Bauch heraus noch allein vom Kopf her treffen, und schon gar nicht, solange einer von beiden zu voll oder zu leer ist“(Hüther, 2004, S. 100).
Durch Muße, ein stabiles inneres Gleichgewicht, eine störungsfreie Umgebung und einem festen Willen können wir verhindern, dass unsere Wahrnehmungsfähigkeit immer nur von äußeren Verhältnissen bestimmt wird, die uns immer wieder dazu zwingen, unsere Sinne auf eine ganz bestimmte Art zu benutzen. Wenn in der vom Gehirn wahrgenommenen Körperwelt oder in der äußeren Welt eine Veränderung auftritt, die zu einer Verschiebung des bisherigen Gleichgewichts, der bisherigen Harmonie der im Gehirn ablaufenden Informationsverarbeitungsprozesse führt, entsteht immer ein Gefühl, welches uns sagt, dass irgend etwas in uns selbst oder um uns herum nicht stimmt. Dieses Gefühl erleben wir häufig, wenn etwas nicht so eintritt, wie wir es erwarten, wenn wir Anforderungen nicht erfüllen können oder uns jemand verletzt, enttäuscht oder betrügt. Die Folge davon ist Angst. Angst, die wir oft anders nennen, z.B.: Verunsicherung, Verzweiflung, Ohnmacht, Hilflosigkeit. Aber ursächlich ist dieses Gefühl Angst. Wenn es uns aber gelingt, das Gleichgewicht in Körper und Gehirn wieder herzustellen, empfinden wir das Gefühl von Hoffnung, Befriedigung, Zuversicht oder Lust. Das darunter liegende Grundgefühl ist Freude.
Freude tritt also auf, wenn es uns gelungen ist, unsere Angst zu besiegen. Ein drittes Grundgefühl stellt sich immer dann ein, wenn wir noch nicht genau einschätzen können, ob das wahrgenommene als Bedrohung unserer inneren Ordnung als Möglichkeit zur Festigung und Wiederherstellung unserer inneren Ordnung zu bewerten ist. Es ist die Überraschung.
Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist das Bewusstsein. Die Fähigkeit, uns unserer eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen, unseres „In-der-Welt-Seins“ gewahr zu werden. Bei der Geburt erlebt der Mensch die erste tiefgreifende Angst und Stressreaktion. Seine bisherige Lebenswelt verändert sich dramatisch und er muss nach einem Weg suchen, um sein verlorengegangenes inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Jedes Neugeborene macht nun während der ersten Lebenstage und Wochen die wichtigste Erfahrung, die man in dieser Welt machen kann und machen muss: Das Gefühl, in der Lage zu sein, seine Angst zu bewältigen. Dieses Gefühl entsteht, wenn der Säugling seine Angst durch Schreien zum Ausdruck bringt. Seine Mutter hört das Schreien und kümmert sich um ihr Baby, indem sie es ihm ermöglicht, wieder möglichst viel von dem zu spüren und wahrzunehmen, was es bereits aus seinem bisherigen Leben im Mutterleib kennt und was es mit der dort vorgefundenen Sicherheit und Geborgenheit verbindet. Auf diese Weise kann es seine Angst überwinden und sein inneres emotionales Gleichgewicht wiederfinden. Diese Situation trainieren Mutter und Kind in der ersten Lebensphase sehr häufig. Die Mutter verlässt den Raum, der Säugling bekommt es mit der Angst zu tun und schreit, die Mutter kommt zurück und tröstet. Bekannt ist auch das „Kuckuck Spiel“ zwischen Mutter und Säugling. Mutter versteckt sich kurz z.B. unter der Decke, Baby wird unglücklich, Mutter taucht wieder unter der Decke vor, sagt „Kuckuck“ und alles ist wieder gut. Was hier oft und oft spielerisch eingeübt wird, ist zunächst natürlich die Entwicklung einer emotionalen Bindung des Kindes an die Mutter. Für unseren Zusammenhang wichtiger ist an dieser Stelle jedoch, dass es die Erfahrung macht, durch seine eigene Leistung in der Lage zu sein, seine Angst zu bewältigen. Diese Erfahrung verankert sich in seinem Gehirn und sein Selbstvertrauen wächst. Es entwickelt das Gefühl von Selbstwirksamkeit, das Gefühl auf seine eigenen Fähigkeiten vertrauen zu können (vgl. Hüther, 2004, S. 73).
Natürlich ist das eben geschilderte eine optimale Bedingung für die Entwicklung von Selbstwirksamkeit in der ersten Lebensphase. Es gibt natürlich auch Kinder, die nach ihrer Geburt Bedingungen vorfinden, die ihnen wenig Gelegenheit bieten, sich sicher und geborgen zu fühlen. Sie machen seltener die Erfahrungen, durch eigene Leistung in der Lage zu sein eine Störung ihres inneren Gleichgewichts zu beheben. Auf diese Weise entsteht Angst.
„Unter dem Einfluss von Angst schaltet unser Gehirn auf Notprogramm“ (Hüther, 2005, S. 17).
Grundsätzlich versuchen alle Lebewesen auf der Erde sich ihr Dasein so komfortabel wie irgend möglich einzurichten. Oder wie es die Buddhisten ausdrücken: „Wir (Menschen) streben nach Glück und versuchen Leid zu vermeiden.“ Alle Kreaturen streben nach einem Leben in dem es möglichst wenige Probleme gibt. Vor zwei elementaren Problemen stehen weltweit sowohl Tiere als auch Menschen: Dem Problem der optimalen Temperatur und der Nahrungsbeschaffung. Um zu überleben müssen alle Lebewesen ihre Energie einsetzen und diese Schwierigkeiten immer wieder in den Griff kriegen. Sie tun das auf unterschiedliche Weise. Tiere bauen sich Höhlen, ihr Fell passt sich an die Umgebung an, sie fliegen in den Süden und unzählige Lösungen mehr um das Temperaturproblem zu lösen. Zur Nahrungsbeschaffung gehen sie jagen, bauen Fallen oder ernähren sich vegetarisch, auch hier müssen sie ständig kreativ sein. Wir Menschen tragen Funktionskleidung und bauen uns Häuser entweder mit Heizung, Klimaanlage oder beidem. Unsere Nahrung bauen wir selber an oder züchten sie. Egal welche Lösungswege gefunden werden, alle Lebensformen suchen nach einem Weg für ein sorgenfreies Leben. Ein Lebewesen hat es geschafft sich ein Leben unter optimalen Bedingungen einzurichten, nämlich der Bandwurm. Er hat sich im Darm des menschlichen Körpers eingerichtet und so die beiden wichtigsten Probleme für sich gelöst. Er lebt stets in einer Temperatur von ca. 37,5°Grad und wird immer ausreichend mit Nahrung versorgt. Einzig wenn der Wirt stirbt, hat auch er keine Chance zu überleben, doch da ein Mensch eine wesentlich höhere Lebenserwartung hat als ein Wurm, kann dieser Punkt vernachlässigt werden. Der Bandwurm hat sich ein Leben ohne Probleme geschaffen. Neurobiologen waren nun sehr interessiert an diesem Phänomen und haben bei der genaueren Untersuchung des Bandwurms die Feststellung gemacht: Der Bandwurm hat kein Gehirn mehr. Daraus folgerten sie, weil der Bandwurm keine Probleme mehr zu lösen hatte, hat sich sein Gehirn vollständig zurückgebildet. Was wiederum bedeutet, Probleme zu haben und damit umzugehen, ist wichtig für die Daseinsberechtigung des Gehirns.
Wir besitzen kein zeitlebens lernfähiges Gehirn, damit wir uns bequem im Leben einrichten, sondern damit wir uns mit Hilfe dieses Gehirns auf den Weg machen können, nicht nur am Anfang, sondern zeitlebens. Selbstverständlich haben wir die Freiheit, jederzeit dort stehenzubleiben, wo es uns gefällt, und fortan nur noch diejenigen Verschaltungen zu benutzen, die bis dahin in unserem Gehirn entstanden sind. Da diese Verschaltungen aber dann umso besser und effizienter gebahnt werden, je häufiger wir sie immer wieder auf die gleiche Weise benutzen, kann daraus sehr leicht die letzte freie Entscheidung geworden sein, die wir in unserem Leben getroffen haben (vgl. Hüther, 2004, S. 117).
2.1. Optimale Erfahrung
Unsere Wahrnehmung ist das Ergebnis vieler Kräfte, die Erfahrungen prägen, von denen jede Einfluss darauf hat, ob wir uns gut fühlen oder schlecht. Die meisten dieser Kräfte können wir nicht kontrollieren. Wir können nicht viel an unserem Aussehen, Temperament oder unserer allgemeinen Konstitution ändern. Wir können weder entscheiden wie groß oder wie klug wir werden, noch wer unsere Eltern sind oder den Ort und die Zeit unserer Geburt. Diese und unzählig viele andere Bedingungen bestimmen, was wir sehen, fühlen und tun. Deshalb wird häufig angenommen, das Schicksal würde vornehmlich von äußeren Kräften bestimmt. Gleichwohl hat jeder schon mal erfahren, anstatt von anonymen Kräften herumgestoßen zu werden, sich in der Kontrolle der eigenen Handlungen, als Herr des eigenen Schicksals zu fühlen. Bei diesen seltenen Gelegenheiten spürt man ein Gefühl der Hochstimmung. Ein Gefühl von tiefer Freude, das lange anhält und zu einem Maßstab dafür wird, wie das Leben aussehen sollte. Und exakt dieser Zustand ist es, den uns Mihaly Csikszentmihalyi als „optimale Erfahrung“, oder auch „Flow“ beschreibt (vgl. Csikszentmihalyi, 2004, S.15).
Das Gefühl des Vaters, dessen Kind zum ersten Mal auf sein Lächeln reagiert. Ein Surfer, der auf einer perfekten Welle reitet. Das, was der Maler fühlt, wenn die Farben auf der Leinwand eine magnetische Spannung zueinander aufbauen. Es sind die besten Momente im Leben, nicht passiv, aufnehmend, entspannend und selbst nach größter Anstrengung können solche Erfahrungen erfreulich sein. Derartige Momente ereignen sich gewöhnlich, wenn Körper und Seele eines Menschen bis an die Grenzen angespannt sind, in dem freiwilligen Bemühen, etwas Schwieriges und Wertvolles zu erreichen. Optimale Erfahrung ist deshalb etwas, das wir herbeiführen. Wir selbst sind dafür verantwortlich, ob wir optimale Erfahrung erleben oder nicht. Und wir können das tun, indem wir uns Herausforderungen suchen und über uns selbst hinausgehen. Optimale Erfahrung hängt von der Fähigkeit ab, zu steuern, was sich jeden Augenblick in unserem Bewusstsein abspielt (vgl. Csikszentmihalyi, 2004, S.16). Wir selbst können entscheiden, auf was wir unsere Aufmerksamkeit richten und je häufiger wir das tun, desto öfter leben wir unser Leben letztlich selbstbestimmt. Wenn wir selbst in der Lage sind, optimale Erfahrung für uns herbeizuführen und das durch eigene Entscheidungen vermögen, bedeutet das auf die Pädagogik übertragen, dass wir es auch Kindern und Jugendlichen beibringen können. Hierzu müssen wir natürlich zunächst selber wissen, wie man optimale Erfahrung herbeiführt. Freude und Schmerz, Interesse oder Langeweile, alles was wir erleben, wird im Bewusstsein als Information dargestellt. Wenn wir in der Lage sind, diese Informationen zu kontrollieren, dann können wir bestimmen, wie unser Leben aussieht. Bei einem optimalen Zustand innerer Erfahrung herrscht Ordnung im Bewusstsein (vgl. Csikszentmihalyi, 2004, S. 19). Dies tritt ein, wenn man eine Herausforderung so durchlebt, dass man weder unterfordert (sonst Langeweile), noch überfordert (sonst Frustration) ist.
In unserer modernen und komplexen Gesellschaft in einer Großstadt sind Kinder und Jugendliche permanent unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Kräften ausgesetzt. Auf der einen Seite wollen offizielle Institutionen wie Schulen, Kirchen und Banken sie zu verantwortungsvollen Bürgern erziehen, die gewillt sind, fleißig zu arbeiten und zu sparen. Auf der anderen Seite werden sie ständig von Händlern, Produzenten und Werbeagenturen hofiert, dass sie ihr Geld an teure Produkte verschwenden. Und schließlich verspricht das Untergrundsystem der verbotenen Freuden seine eigenen Belohnungen der leichten Zerstreuung durch Drogen, verbotene Spiele und Filme. Sie sollen abhängig gemacht werden von einem Gesellschaftssystem, das ihre Energien für die eigenen Zwecke ausbeutet. Natürlich ist es notwendig, für äußere Ziele zu arbeiten und unmittelbare Belohnungen aufzuschieben. Dazu braucht man aber nicht in eine Marionette verwandelt zu werden, die von sozialen Kontrollen geführt wird. Die Strategie muss also sein, allmählich von den gesellschaftlichen Zwängen und Forderungen unabhängig zu werden und zu lernen, wie man sie durch Belohnungen ersetzt, die man selbst in der Hand hat. Man soll deshalb nicht seine Ziele aufgeben, sondern eher eigene Ziele zusätzlich oder anstelle derjenigen entwickeln, mit denen andere versuchen, zu verführen. Wenn man also lernt, in dem fortlaufenden Strom von Erfahrungen, im Prozess des Lebens selbst, Freude und Sinn zu finden, fällt einem die Last der sozialen Kontrolle automatisch von den Schultern (vgl. Csikszentmihalyi, 2004, S. 36). Der große Kaiser Marc Aurel schrieb:
„Wenn dich äußere Dinge quälen, so sind nicht diese es, die dich stören, sondern dein eigenes Urteil über sie. Und es steht in deiner eigenen Macht, dieses Urteil auszulöschen“ (Csikszentmihalyi, 2004, S. 37).
Optimale Erfahrung ist ein Zustand, in dem das Bewusstsein geordnet ist. Ordnung im Bewusstsein erlangen wir durch die Kontrolle über unser Bewusstsein. Die ist die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit willentlich auf etwas zu richten, sich nicht ablenken zu lassen und sich solange zu konzentrieren, bis eine Aufgabe erledigt ist. Die Vorraussetzung dafür ist eine interessante Aufgabe, die zu bewältigen ist und einen doch genügend herausfordert. Darüber hinaus jedoch fällt es den Menschen leichter bei der Stange zu bleiben, die schon öfter erfahren haben, wie befriedigend es ist, seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Aufgabe zu konzentrieren. In solchen Momenten vergeht die Zeit wie im Fluge. Man setzt all seine Energie für ein bestimmtes Ziel ein und am Ende ist man Stolz auf seine Leistung und hat nun ein Erlebnis mit Erinnerungswert. Je häufiger man diese Erfahrung gemacht hat, desto stärker werden die neuronalen Verschaltungen im Gehirn und wir sind von Mal zu Mal besser in der Lage, unsere Aufmerksamkeit auf etwas zu richten und auch die Dauer unserer Konzentration verbessert sich, denn wir verbinden Aufmerksamkeit mit einem guten Gefühl und hoffen es wieder zu erleben. Jeder Mensch teilt seine Aufmerksamkeit ein, indem er sie entweder als Energiestrahl bündelt und so sein Bewusstsein ordnet oder indem er sie in planlose, zufällige Bewegungen zerstreut. So hängt letztlich die Form und der Inhalt des Lebens davon ab, wie Aufmerksamkeit genutzt wird. Die Aufmerksamkeit bestimmt, was im Bewusstsein passiert oder nicht passiert und wir brauchen sie um uns zu erinnern, zu denken, zu fühlen und Entscheidungen zu treffen. Aufmerksamkeit ist eine psychische Energie, ohne die keine Aufgabe verrichtet werden kann und sie wird durch Aufgaben zerstreut. Wenn wir diese Energie anwenden, erschaffen wir unser Selbst. Unsere Erinnerungen, Gedanken und Gefühle werden durch ihre Anwendung geformt. Sie ist eine Energie unter unserer Kontrolle, mit der wir nach Belieben umgehen können. Deshalb ist Aufmerksamkeit das wichtigste Werkzeug, die Qualität unserer Erfahrungen zu verbessern (vgl. Csikszentmihalyi, 2004, S. 54).
Folgt man also der Logik des eben beschriebenen, könnte man sagen, die Persönlichkeit eines Menschen wird komplexer und reifer, wenn er lernt sein Bewusstsein zu kontrollieren und optimale Erfahrungen zu machen. Csikszentmihaly spricht hier vom Resultat zweier wichtiger psychologischer Prozesse – Differenzierung: eine Bewegung auf Einzigartigkeit hin und Integration: Verbindung mit anderen Menschen. Eine komplexe Persönlichkeit ist die Mischung aus beiden Faktoren. Sie wird aufgrund von Flow differenzierter, weil die Bewältigung einer Herausforderung unweigerlich dazu führt, dass sich ein Mensch fähiger und geschickter fühlt.
Flow hilft, das Selbst zu integrieren, weil das Bewusstsein im Zustand höchster Konzentration gewöhnlich gut geordnet ist.
Nach jeder Flow-Episode fühlt man sich gesammelter als zuvor, nicht nur innerlich, sondern auch mit Blick auf andere Menschen und der Welt im Allgemeinen.
Wenn wir ein Ziel wählen und uns bis an die Grenzen unserer Konzentration in dieses Ziel
hineinversetzen, wird alles was wir tun erfreulich. So wächst unsere Persönlichkeit.
2.2. Resilienz
Resilienz ist das Phänomen, dass Menschen sich trotz oder gerade wegen widriger Umstände positiv entwickeln. Menschen, die auf seltsame Weise immun gegen die Angriffe des Schicksals sind und seelisch und körperlich gesund bleiben, obwohl ihre Lebensbedingungen alles andere als einfach sind (vgl. Huber, 2005, S. 20).
Sobald man sich mit diesem Thema auseinandersetzt, stößt man über kurz oder lang auf den Namen Emmy E. Werner und ihre „Kauai-Studie“.
Emmy E. Werner hat zum Thema Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) eine Untersuchung durchgeführt. Ausgangsfrage war hierzu: Welche Faktoren oder Prozesse helfen Kindern bei der erfolgreichen Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, selbst wenn sie unter schwierigen Bedingungen (z.B. elterliche Arbeitslosigkeit, Armut, Psychose oder Drogensucht der Eltern, Scheidungen, Bürgerkriege, Naturkatastrophen, etc.) aufwachsen? (Werner, 1999, S. 29)
Anschließend war sie in der Lage, eine Reihe von schützenden Faktoren (im Kind, in der Familie, in der Gemeinde) aufzulisten, wie die meisten Kinder imstande sind, sich durch eine derart hindernisreiche Kindheit zu manövrieren.
Emmy E. Werner benennt vier Gruppen von schützenden Faktoren:
Schützende Faktoren im Kind:
- Temperamentseigenschaften, die bei Betreuungspersonen positive Reaktionen auslösen: aktiv, gutmütig, liebevoll
- Gute physische Konstitution: Immunsystem, Kreislaufsystem, ...
- Gute Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten
- Ein spezielles Interesse
- Überzeugung, das sie ihre Lebenswelt durch eigene Handlungen positiv beeinflussen können
- Fähigkeit, zu überlegen und zu planen
- Nicht stereotyp „Mädchen“ oder „Junge“: beide Geschlechter waren selbstbewusst, fürsorglich, leistungsfähig und freundlich
Schützende Faktoren in der Familie:
- Chance, eine enge Bindung mit mindestens einer kompetenten und stabilen Person aufzubauen, die auf ihre Bedürfnisse einging
- Schulbildung der Mutter und ihre Kompetenz mit dem Kleinkind
- Erziehungsorientierungen in der Familie: Regeln und Akzeptanz von Gefühlen (bei Jungen), Unabhängigkeit und zuverlässige Unterstützung (bei Mädchen)
- Religiöse Einbindung
Schützende Faktoren in der Gemeinde:
- Verwandte, Freunde, Nachbarn etc., die in Krisenzeiten zur Verfügung stehen
- Freunde aus stabilen Familien
- Lehrer
- Schulische Aktivitäten, die 1. helfen wichtige Erziehungs- oder Berufsziele zu erreichen, die 2. das kindliche Selbstgefühl stärken, die 3. anderen Menschen in Not helfen
Schützende Prozesse: Verbindung zwischen schützenden
Faktoren im Kind und seiner Umwelt
„Der Einfluss von schützenden Faktoren auf die Anpassungsfähigkeit der Kinder scheint auf den verschiedenen Entwicklungsstufen zu variieren. Konstitutionelle Voraussetzungen – Gesundheitszustand und Temperamentseigenschaften – haben ihren größten Einfluss in der Säuglingszeit und im Kleinkindalter. Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten ebenso wie das Vorhandensein verantwortlicher, kompetenter „Ersatzeltern“ und Lehrer spielen eine zentrale Rolle als schützende Faktoren in der Schulzeit.“ (Werner 1999, S.31)
Die Untersuchung von 698 Kindern, die im Jahre 1955 auf der Insel Kauai in Hawaii geboren worden sind, ist unter dem Namen `Kauai Längsschnittstudie´ bekannt geworden.
Die Gruppe ist im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren untersucht worden.
Bei 30% der Kinder bestand von Anfang an ein hohes Entwicklungsrisiko, weil sie von Armut, geburtsbedingten Komplikationen und elterlichen psychischen Krankheiten betroffen waren. 20% dieser Kinder entwickelten später Lern- oder Verhaltensprobleme, wurden straffällig oder hatten psychische Probleme im Jugendalter. Ein Drittel dieser Kinder entwickelten sich trotz erheblicher Entwicklungsrisiken zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Menschen (vgl. R. Krauß, 2002, S. 15ff).
In einem Vortrag über Resilienz fasst die Sozialpädagogin und Kinder-Jugendpsychotherapeutin Corinna Scherwath Schutzfaktoren, also Prozesse, Eigenschaften und Bedingungen, die die Wucht der Belastung abmildern können, zusammen: Positive Indikatoren für die Entwicklung resilienter Fähigkeiten sind Bindung, Beziehung, Optimismus, Hoffnung, soziale Unterstützung, Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Kontrollüberzeugung, Individuelle Eigenschaften und ein positives Selbstbild. Alle genannten Aspekte bedürften der genaueren Erläuterung. Für den Zusammenhang Erlebnispädagogik in der Großstadt, genügt es an jedoch die Begriffe Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Kontrollüberzeugung etwas näher zu beleuchten. Gemeint ist damit die Erfahrung, Situationen aktiv gestalten zu können. Man hält das eigene Handeln für wichtig, sinnvoll und erfolgversprechend und nimmt sich selbst als mitgestaltend wahr (C. Scherwath, 2005). Scherwath gibt aus der Autobiographie „Die Asche meiner Mutter“, von Frank McCourt, am Beispiel des Autors, einen Einblick von resilienten Fähigkeiten eines Menschen. Frank McCourt durchlebt eine irische Kindheit, die geprägt ist von Armut, Vernachlässigung, Alkoholkonsum und Tod. In der Familie war er, als ältester Bruder derjenige, der den kleinen Geschwistern half, wenn die Mutter wieder ausfiel, der den Vater aus der Kneipe nach Hause brachte und schon früh Geld verdienen ging und so Hunger vermindern konnte. Dieses Handeln erfüllte ihn mit Stolz. Die Perspektive des aktiv Handelnden ist es, die dem Autoren Hoffnung verleiht und ihn die misslichen Umstände überstehen lässt. Heute lebt Frank McCourt als erfolgreicher Autor und Familienvater in Amerika (vgl. C. Scherwath, 2005). So genannte Ich bin (-zuversichtlich, das alles gut wird), Ich kann (Lösungen für Probleme finden mit denen ich konfrontiert bin und jemanden finden der mir hilft, wenn ich Unterstützung brauche) und Ich habe (Menschen um mich, die mich dabei unterstützen und bestärken, selbstbestimmt zu handeln) Faktoren wirken als Selbstbotschaften resilienter Menschen risikomildernd.
Resilienz ist ein aktiver und interaktiver Wachstums- und Reifeprozess der eigenen Stärke, der lernbar ist. An diesem Punkt stellt Corinna Scherwath die Frage nach der Aufgabe für die pädagogische Praxis sowohl resiliente Entwicklung zu unterstützen als auch schwierige Umstände positiv zu beeinflussen. Wie kann Pädagogik präventiv als auch begleitend geeignete Voraussetzungen für die Entwicklung von Resilienz schaffen? Indem die Akteure im pädagogischen Arbeitsfeld ihr Handeln auf das Bereitstellen und Aktivieren von Schutzfaktoren ausrichten, so dass Kinder bzw. Menschen in ihrem weiteren Lebensverlauf auf diese zurückgreifen können. Bezogen auf den Schutzfaktor der Selbstwirksamkeit stehen folgende Aufgaben bevor: Es geht darum Handlungskompetenzen zu stärken und Erfolge zu schaffen, in dem wir angemessene Leistungsanforderungen stellen und bewältigbare Probleme erzeugen. Angemessene Anforderungen und Situationen an denen Kinder und Jugendliche sich erproben können und die es ihnen bei größeren und lebensechten Problemen ermöglichen, sich diese zuzutrauen, sind wichtige Faktoren, darin sind sich die Forschungen zur Resilienz einig, für einen resilienten Umgang mit schwierigen Situationen (vgl. C. Scherwath, 2005).
Psychische Widerstandsfähigkeit ist demnach also keine Eigenschaft, die Menschen zufällig besitzen, sie ist keine Glückssache. Resilienz kann man lernen, sagt auch Ursula Huber, und das sollte möglichst früh passieren (vgl. Huber, 2005, S. 23). Auch sie benennt u.a. die erlernbare Eigenschaft Krisen nicht als unüberwindliches Problem zu betrachten, sondern Einfluss darauf zu nehmen, in dem man in der Lage ist sie zu kontrollieren, und sie nicht als dauerhaft, sondern zeitlich begrenzt wahrzunehmen. Wer die Hoffnung nicht verliert, dass die Zukunft Besseres für ihn bereithält, der wird von der schweren Gegenwart nicht niedergedrückt.
2.3. Partizipation
Partizipation, wörtl. Teilnahme oder Teilhabe, ist ein wesentliches Merkmal demokratischer Gesellschafts – und Staatsformen. Im sozialpädagogischen Gebrauch stand der Begriff zunächst im Zusammenhang mit Fragen der Sozialplanung (Bürgerbeteiligung). In den 90er Jahren erweiterte sich der Gebrauch auf das Thema der Klienten- bzw. Nutzerbeteiligung. Partizipatorische Richtlinien wurden in das Kinder und Jugendhilfegesetz mit aufgenommen. Im heutigen Sprachgebrauch bezeichnet Partizipation in der Sozialarbeit arbeitsfeldübergreifend den Sachverhalt bzw. das Ziel einer Beteiligung und Mitwirkung der Nutzer (Klienten) bei der Wahl und Einbringung sozialarbeiterischer Dienste, Programme und Leistungen (vgl. Stefan Schnurr, 2001, S. 1330). Im Gesamtkontext muss Partizipation immer auch mit dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Recht und Politik diskutiert werden.
Für unseren Zusammenhang ist jedoch die entscheidende Frage: Was bedeutet Partizipation für das Individuum? Hierzu muss man sagen, dass Partizipation Machtverhältnisse verändert. Partizipatorische Initiativen können ein Weg zur Umverteilung von Macht, Veränderung von Beziehungen und Schaffung von Einflussmöglichkeiten sein. Wenn Kinder und Jugendliche die reale Möglichkeit haben sich einzumischen und sehen können, dass sich durch ihr Engagement wirklich etwas verändert, dann gewinnen sie Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Eltern und Pädagogen müssen es dann natürlich auch aushalten, dass Kinder sich ernsthaft beteiligen und etwas bewirken, und zwar so wie sie es für richtig halten.
Partizipation gibt es in den vier Grundkategorien normativ – als ethischen Grundsatz, z.B.: Subjekte, Akteure, Lebenswelt, Selbstbestimmung, Bedürfnisse; (Gesellschafts) politisch – als Teilhabe / Beteiligung in politisch-gesellschaftlichen Prozessen, z.B.:demokrat. Beteiligungsformen, Kinderrechte, Minderheitsrechte; sozialpädagogisch – als Arbeitsprinzip, z.B.: verschiedene Partizipations- und Arbeitsmodelle und –methoden; sozialpolitisch – als Handlungsorientierung, z.B.: 8. Kinder und Jugendbericht, KJHG...
City Bound regt Kinder und Jugendliche an, teilzunehmen und sich einzumischen in die Gesellschaft. Die Adressaten werden auf unterschiedlichen Feldern aktiv und lernen, das man die Realität durchaus nicht so hinnehmen muss, wie sie sich einem darstellt, sondern sie beeinflussen kann. Insbesondere normativ erleben sich die Teilnehmer als Subjekte und Akteure bei der Gestaltung ihrer eigenen Lebenswelt. Selbstbestimmt verändern sie die Wirklichkeit und verleihen ihren Bedürfnissen Ausdruck. Denn Bedürfnisse zu haben reicht nicht. Wenn aus einem Mangel ein Anspruch werden soll, dann muss man in der Lage sein die eigenen Bedürfnisse auch auszudrücken. Teilhabe als Arbeitsprinzip in der Erlebnispädagogik besteht beim City Bound Ansatz durch den Umstand, dass viel in Kleingruppen agiert wird, die eigenständig Aufgaben bewältigen. Die Mitbestimmungsmöglichkeiten sind gut, ebenso wie die Selbstständigkeit bei den Aktionen, bestätigen auch die Erlebnispädagogikfachmänner Heckmair und Michl (vgl. Heckmair/ Michl, 2002, S. 207). Positiv erwähnt sei hier auch der zeitlich überschaubare Rahmen der Aktionen. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, dass zwischen Planung und Realisierung eines Vorhabens ein möglichst enger, zeitlich erfahrbarer Zusammenhang besteht. Weiterhin bestehen die besten Erfahrungen mit Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang konkreter Projekte und Vorhaben, die unmittelbar mit dem Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen verbunden sind, mit ihren täglichen Bedürfnissen und Verrichtungen in der Freizeit, beim Sport und hinsichtlich eigener Räume und Treffpunkte (vgl. Studienverbund Bramfeld, 1999, S. 16). Diese Punkte berühren die wohl herausragendsten Merkmale von Erlebnispädagogik in der Großstadt, die große Alltagsnähe, dadurch dass die Projekte quasi „vor der eigenen Haustür stattfinden“, im unmittelbaren Umfeld der Teilnehmer und somit eine gute Übertragbarkeit in den Alltag gewährleistet ist. Beteiligung muss zu ganz konkreten Ergebnissen führen, denn ergebnisoffene Beteiligungsprozesse sind eher demotivierend und frustrierend und verhindern künftiges Engagement von Kinder und Jugendlichen.
2.4. Zusammenfassung und Ausblick
Erfahrung und die Tatsache, dass sich das menschliche Gehirn unter dem Einfluss von Problemen optimal entwickelt, sind neurobiologisch von zentraler Bedeutung für unsere Persönlichkeitsentwicklung. Die wichtigsten Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens machen kann, sind diejenigen im zwischenmenschlichen Bereich. Wir sollten unser Gehirn auf unterschiedliche Weise und möglichst selbstbestimmt verwenden, um nicht abhängig zu werden von äußeren Umständen. Es geht also gerade nicht darum sich im Leben bequem einzurichten, sondern im Gegenteil die Herausforderungen anzunehmen und daran zu wachsen. Indem wir das tun, nehmen wir unser Leben in die eigenen Hände und gestalten unser Schicksal. Wir selbst sind dafür verantwortlich unser Bewusstsein und unsere Aufmerksamkeit zu steuern. Auf diese Weise können wir unser Leben selbstbestimmt führen. Die Aufgabe von Pädagogen ist es, dazu beizutragen, dass Kinder und Jugendliche dazu in der Lage sind. Pädagogen können Kinder und Jugendliche dazu befähigen, Ordnung in ihr Bewusstsein zu bringen und so ihre Persönlichkeitsentwicklung fördern. Stärkung der Selbstwirksamkeitserfahrung und somit Verbesserung der psychischen Widerstandfähigkeit muss das Ziel sein, wenn Erzieher auf eine gelungene Lebensvorbereitung hinarbeiten. Bereitstellen und Aktivieren von Schutzfaktoren, indem man die Handlungskompetenzen von Menschen stärkt, sollte stets das Motto sein. Denn sowohl Selbstwirksamkeit, als auch optimale Erfahrung und Resilienz kann man lernen. Partizipatorische Maßnahmen verstärken das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Pädagogen sind also angehalten, Prozesse zu ermöglichen, in denen Kinder und Jugendliche sich ernsthaft beteiligen.
3.0. Was ist Erlebnispädagogik?
Die für mich treffenste Definition von Erlebnispädagogik ist von Bernd Heckmair und Werner Michl, die zusammenfassen:
„Erlebnispädagogik ist eine handlungsorientierte Methode und will durch exemplarische Lernprozesse, in denen junge Menschen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, diese in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten“ (Reiners, 2003, S. 13).
Will man Erlebnispädagogik als Methode der sozialen Arbeit kategorisieren, so ist sie einzuordnen unter Gruppen- und sozialraumbezogene Methoden, soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit (vgl. Thole (Hrsg.)/Galuske/Wolfgang Müller, 2002, S.504).
Zur Geschichte der Erlebnispädagogik lassen sich als Begründer und Menschen die sich um diese Methode verdient gemacht haben, in der Fachliteratur immer wieder die Namen Jean-Jacques Rousseau, David Henry Thoreau und Kurt Hahn nachlesen (vgl. Fischer/Ziegenspeck, 2000, Heckmair/Michl, 2002, u.s.w.). Es genügt an dieser Stelle die Geschichte kurz erwähnt zu lassen, denn es geht um die Idee von Erlebnispädagogik, die in einem Methodenbuch von Michael Galuske modifiziert wurde und sich wie folgt liest:
„Erlebnispädagogik ist eine Methode, die Personen und Gruppen zum Handeln bringt mit allen Implikationen und Konsequenzen bei möglichst hoher Echtheit von Aufgabe und Situation in einem Umfeld, das experimentierendes Handeln erlaubt, sicher ist und den notwendigen Ernstcharakter besitzt“ (Hufenus in: Galuske, 1993, S. 244).
Diese Definition richtet den Blick auf mehrere charakteristische Merkmale der Erlebnispädagogik:
Die Lernziele von Erlebnispädagogik sind einzuteilen in die Kategorien sachlich, individuell, sozial und ökologisch. Sachliche Lernziele richten sich direkt auf den Erwerb von fachlichen Kompetenzen, z.B. Techniken im Klettern, Kanufahren usw. Auf das Subjekt bezogene Lernziele sind Selbständigkeit und Entscheidungsfähigkeit erlangen, eigene Grenzen und Ressourcen entdecken, fördern bzw. abbauen, Gefühle wahrnehmen, ausdrücken und damit umgehen lernen, Selbstbewusstsein steigern, Ausdauer, Durchhaltewillen und Kontinuität üben usw. Soziale Lerndimensionen fordern die Fähigkeit, sich in Gruppenzusammenhänge zu integrieren. Die ökologische Lernzieldimension beinhaltet die sinnliche Wahrnehmung und Entdeckung ökologischer Zusammenhänge und der Einübung umweltschonenden Verhaltens (vgl. Galuske, 1998, S. 246). Kern- und Leitgedanke von Erlebnispädagogik ist jedoch immer „Learning by doing“, „Lernen durch Erleben“.
Für eine Ästhetisierung von Pädagogik setzt sich Rolf Göppel ein, der sich über Umwelterziehung bei Kindern wie folgt äußert: „Die Erziehung zur Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Genussfähigkeit, die Pflege der Fähigkeit zu staunen, die Sensibilisierung der Aufmerksamkeit dafür, welche Umgebung der eigenen Seele gut tut, die Ausbildung eines liebevoll-achtsamen Verhältnisses zu den natürlichen Erscheinungen, die einem z.B. den Duft einer Blume oder den Gesang eines Vogels wertvoll sein lassen, auch wenn diese zu nichts nütze sind und die einem die Beobachtung der Fortbewegungsart einer Raupe oder des Baus eines Spinnennetzes zum spannenden Erlebnis werden lassen.“ (Göppel, in Homfeldt, 1991, S. 198) Er weist darauf hin, dass Erlebnispädagogik mit der ästhetischen Bildung gewissermaßen verschmelzen soll, um sich nicht in spektakulären Aktionen zu erschöpfen und den täglichen Lebenskontext des Kindes darüber zu vergessen.
3.1. Erlebnispädagogische Ansätze in der Großstadt
Erlebnispädagogik in der Großstadt ist eine Verlagerung des klassischen Handlungsortes der Natur in die Stadt. Es ist damit eine Reaktion von Erlebnispädagogik auf die häufigen Vorwürfe von mangelnder Alltagsnähe und Alltagsübertragbarkeit. City Bound erweitert Erlebnispädagogik zu einer lebensweltorientierten Methode.
Wenn in der klassischen Erlebnispädagogik die Austragungsorte und Angebote (Bergwandern, Klettern, Skitouren, Höhlenbegehungen, Floss und Kanufahren, Fahrradfahren, Segeln usw.) als Mittel oder Medien verstanden werden, so kann man bei City Bound (Erlebnispädagogik in der Großstadt) wohl die Großstadt selbst als das Medium bezeichnen. Während die klassische Erlebnispädagogik in der Natur stattfindet und ihren Schwerpunkt in der physischen und psychischen Auseinandersetzung mit derselben hat, setzt City Bound auf die Auseinandersetzung mit der Großstadt als Medium und Lerninhalt, der in erster Linie soziale Herausforderungen bereithält. City Bound ist die logische Weiterführung von Erlebnispädagogik, die im Zuge von wachsenden Städten im letzten Jahrhundert vermehrt vor dem Problem der Alltagsübertragung stand. Es ist schön wenn Jugendliche eine Woche in die Natur fahren und dort klettern, zelten, Lagerfeuer machen und kooperative Abenteuerspiele spielen. So eine Woche ist ein tolles Erlebnis und hat neben der Selbsterfahrung und der Naturerfahrung hoffentlich auch gezeigt, wie wichtig es ist mit anderen Menschen zusammen zu arbeiten. Was aber, so die Kritik, bleibt von so einer Woche übrig, wenn der Alltag wieder einkehrt. Dann stehen die Jugendlichen vor anderen Herausforderungen, wie der Alltagsbewältigung zuhause, in der Schule und im sozialen Umfeld. Und diese Herausforderungen unterscheiden sich stark von denen, die am Berg noch nötig waren. Wenn also das Medium (der Berg, die Höhle, der Fluss, der See, das Meer) wegfällt, scheint auch von den Lösungsstrategien unter veränderten Bedingungen nicht viel übrig zu bleiben. Hier setzt City Bound an. Die Aufgaben und Herausforderungen finden da statt, wo die Teilnehmer leben. In ihrer Lebenswelt müssen sie sich kommunikativen und interaktiven Problemen stellen. Und da sie versuchen, die Probleme in ihrem Revier zu lösen und sie nach dem Kurs wieder dort leben, werden sie sich nicht nur an ihr Handeln erinnern, sondern ihre Stadt auch aus einer anderen Perspektive betrachten.
Der Begriff City Bound ist eine Ableitung von Kurt Hahns Outward Bound. Diesen Begriff benutzte er für seine erlebnispädagogischen Projekte und da sein Lieblingsmedium das Wasser war, wählte er eine Wortschöpfung aus der Seefahrersprache. Outward Bound heißt soviel wie „Leinen los“, wenn ein Schiff fertig ist zum Auslaufen und es auf große Fahrt geht. City Bound bedeutet also, mit gepacktem Rucksack und voller Tatendrang, fertig auf Entdeckungsreise in der Großstadt zu gehen. Christina Crowther beschreibt City Bound als Großstadtvariante der Erlebnispädagogik, bei der zu den klassischen Zielsetzungen Persönlichkeitsentwicklung, soziales Lernen (Förderung von Teamgeist und Gemeinschaftsdenken), Dienst am Nächsten und körperliche Bewegung, die Aspekte berufliche und soziale Integration und vor allem die Auseinandersetzung mit dem sozialräumlichen Kontext Stadt und dem infrastrukturellen Geflecht der Großstadt hinzukommen (vgl. Crowther, 2005, S. 16). City Bound war anfänglich auf Kinder und Jugendliche konzipiert, inzwischen haben soziale und emotionale Kompetenzen, sogenannte Soft Skills, in den vergangenen Jahren in der Berufswelt immer mehr an Bedeutung gewonnen. So das City Bound vermehrt in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung, sowie insgesamt in der Personalentwicklung eine Rolle spielt. Die Möglichkeiten von Erlebnispädagogik in der Großstadt sind breit gefächert und können außer stadtspezifischen Elementen auch natursportliche Aktivitäten wie Kanu – und Floßfahren (in Städten mit Flüssen), Klettern (an In- oder Outdoorkletterwänden), Fahrradfahren usw. enthalten. Ein weiteres Einsatzfeld ist der Einsatz von City Bound als Ergänzung zum Schulunterricht z.B. in Form von Projektarbeit. Crowther berichtet von immer mehr Pädagogen und Trainern, die diesen Ansatz in der Jugendbildungsarbeit und in der betrieblichen Weiterbildung einsetzen. Sie schreibt weiter über mutige Vorreiter, die mit verschiedenen Konzepten in unterschiedlichen Lernkontexten (Therapie, Schule, Universität und Unternehmen) experimentieren (vgl. Crowther, 2005, S. 16).
City Bound stellt das vermeintlich Selbstverständliche des Alltags permanent in Frage und schärft somit den Blick für die sozial – räumliche Umwelt. Es lässt die Banalitäten und Perversitäten des urbanen Alltags aus einer völlig neuen Perspektive aufscheinen. Die Grundfiguren und Zielhorizonte einer handlungsorientierten Pädagogik sind es in unserem Fall, die Fassaden des Alltäglichen zu durchschauen, die Muster von gesellschaftlichen Ritualen zu interpretieren und die Codes des sozialräumlichen Mikrokosmos zu decodieren. In diesem Zusammenhang ist City Bound keine Erfindung, sondern nur die logische Weiterentwicklung verschiedener erlebnispädagogischer Lernmodelle. City Bound baut ganz wesentlich auf die Wechselwirkung von „Fleisch und Stein“, also Körper und Stadt. Es ist in seiner Sprunghaftigkeit, räumlichen Variabilität und Flüchtigkeit eine mögliche pädagogische Antwort auf die bizarre Vielfalt des Phänomens Großstadt (vgl. Heckmair/Michl, 2002, S. 191).
City Bound erweitert Handlungsoptionen und vermittelt Selbstbewusstsein fokussiert auf die Ergebnisse des eigenen Handelns. Es vermittelt ein Gespür für das eigene Handeln und macht neugierig, neue Handlungsmöglichkeiten auszuprobieren und damit zu experimentieren. Die Realität ist durch das eigene Handeln veränderbar, bei allem was vorgegeben ist. Zu lernen, dass sich die Wirklichkeit durch das eigene Wirken wandelt, wird immer wichtiger für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung in der heutigen Zeit, in der einem der eigene Handlungsspielraum oft schablonenartig eingegrenzt vorkommt und man mit einem ohnmächtigen Gefühl durch den Alltag torkelt (vgl. Krauß, 2004, S. 16).
So fassen auch Karin Feige und Barbara Deubzer in ihrem Praxishandbuch „City Bound“ die erfolgreichen Aspekte von Projekten folgendermaßen zusammen:
„Die TeilnehmerInnen überwinden die eigenen Grenzen und machen Aktionen, die sie so in ihrem Alltag nicht unternehmen würden. Dies bewirkt eine Erweiterung des eigenen Handlungsspielraumes und ermöglicht zukünftiges flexibles Agieren“ (Deubzer/Feige, 2004, S. 133).
Alle pädagogischen Ziele werden handlungsbezogen vermittelt. Durch eigenes Erleben erkennen die TeilnehmerInnen persönliche Strategien und Verhaltensmuster und können diese bei späteren Aktionen verändern. Es ist learning by doing vorhanden.
Ein Perspektivenwechsel ist bei allen TeilnehmerInnen zu beobachten. Einige Vorurteile werden sichtbar und verändern sich. Barrieren zu Mitmenschen, zu Randgruppen und die eigene Überheblichkeit „so etwas kann mir nicht passieren“, verwandeln sich in Empathie für andere. Eine verbindende Kommunikation ist möglich. Neue Ideen für den Umgang miteinander und für die eigene Lebensgestaltung entstehen.
Die Selbstverantwortung der TeilnehmerInnen wird bei City Bound-Projekten stark gefördert. Die Unterstützung und Sicherheit durch pädagogische LeiterInnen ist während der Aktionen nur eingeschränkt vorhanden. So stärkt die Bewältigung der Aufgaben ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstsicherheit.
Alle Aktionen haben einen hohen Aufforderungscharakter und bieten meistens das Gefühl eines Abenteuers. Sie klingen spannend. Durch das offene Setting ist der Ausgang der Aktionen nie gleich (vgl. Deubzer/Feige, 2004, S. 133). Crowther benennt fünf Leitideen von City Bound:
1. Die Aktionen sind so angelegt, das die Teilnehmer aktiv, interaktiv und kommunikativ
handeln müssen, um erfolgreich zu sein.
2. Die Aktionen sollen einen Perspektivenwechsel ermöglichen.
3. Die Aktionen sollen die Teilnehmer herausfordern.
4. Die Aktionen werden zielorientiert ausgewählt, damit bestimmte Entwicklungsthemen bearbeitet werden können.
5. Das zentrale Prinzip ist, die Erlebnisse und Erfahrungen, die in den Aktionen gemacht
werden, durch anschließende Reflexion zu vertiefen und zu verankern. Dazu gehört der
Transfer in den Alltag der Teilnehmer.
In der Praxis bedeutet das, dass die Aktionen von Eigenaktivität leben und die Teilnehmer ein Übungsfeld bekommen, in dem sie sich selbst, ihre Umwelt und ihre Interaktionsstärke erleben können. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Bewältigung der Situation und der Verantwortung für das Ergebnis. Die Rückmeldung in der sozialen Begegnung ist unmittelbar und echt, denn die Antwort erfolgt sofort. Der Umgang mit Sicherheit oder Unsicherheit, Angst oder Freude bestimmt, wie ich in der Situation weiterhin vorgehe. Diese Prozedur entspricht den Kommunikationsprozessen, die in jeder schulischen, beruflichen oder privaten Situation zu meistern sind.
Die eigene Konstruktion von Wirklichkeit mit unseren Annahmen und Werten ist für die meisten Menschen handlungsleitend. Durch regelmäßige Perspektivenwechsel, also bewusst andere Sichtweisen auf die Realität, lernen wir, unsere Ansichten flexibler zu gestalten und versetzen uns in die Lage, evtl. festgefahrene Haltungen zu überprüfen und ggf. zu ändern.
City Bound-Aktionen schärfen das Gespür dafür, Herausforderungen richtig einzuschätzen und damit zu experimentieren. Wobei es nicht in erster Linie um das Ergebnis geht, sondern um die Selbstbeobachtung auf dem Weg dorthin. Die Teilnehmer erfahren die Relation zwischen dem, was geplant war und dem was dann tatsächlich geht. Oft ist das viel mehr als man erwartet hatte. Solche Erfahrungen sind wesentlich für die Selbstkompetenz.
Das Menschsein offenbart sich im Sprechen und Handeln, lehrt uns Hannah Arendt in ihrem Aufsatz „Vita activa“ oder „Vom tätigen Leben“. Sprechend und handelnd unterscheiden sich Menschen aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein. Durch diese Tätigkeiten stellt sich die Einzigartigkeit des Individuums dar. Das aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht auf einer Initiative, die es selbst ergreift (im Unterschied zum Erscheinen des Menschen durch die Geburt).
Ein Leben ohne alles Sprechen und Handeln wäre buchstäblich kein Leben mehr, sondern ein die Länge eines Menschenlebens gezogenes Sterben. Das Leben würde nicht mehr in der Welt unter Menschen erscheinen, sondern nur als ein Dahinschwindendes sich überhaupt bemerkbar machen. Wir wüssten von ihm nicht mehr als wir, die Lebenden, von denen wissen, die in den Tod schwinden, den wir nicht kennen.
Wir Menschen schalten uns sprechend und handelnd in die Welt ein. Auf diese Weise bestätigen wir die nackte Tatsache des Geborenseins und übernehmen die Verantwortung für unser Leben. Doch genauso, wie niemand sich einem Minimum an Initiative ganz und gar entziehen kann, wird die Initiative doch nicht von irgendeiner Notwendigkeit erzwungen wie das Arbeiten, und sie wird auch nicht aus uns gleichsam hervorgelockt durch den Antrieb der Leistung und die Aussicht auf Nutzen. Die Anwesenheit von Anderen, denen wir uns zugesellen wollen, mag in jedem Einzelfall als ein Stimulans wirken, aber die Initiative selbst ist davon nicht bedingt. Der Antrieb scheint vielmehr in dem Anfang selbst zu liegen, der mit unserer Geburt in die Welt kam, und dem wir dadurch entsprechen, dass wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen. In diesem ursprünglichen und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues anfangen dasselbe. Jede Aktion setzt etwas in Bewegung. Jeder Mensch ist aufgrund seines Geborenseins ein Anfang und Neuankömmling in der Welt. Deshalb können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. Die Geburt eines Menschen ist das Anfangen eines Wesens, das selbst im Besitz der Fähigkeit ist anzufangen. Vom Gewesenen und Geschehenen her gesehen bricht jeder Anfang unerwartet und unberechenbar in die Welt. Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses ist allen Anfängen und allen Ursprüngen innewohnend. Der Neuanfang ist immer das unendlich Unwahrscheinliche. Ein Neuanfang unterbricht die Prozessabläufe in der Erfahrung des Lebens. Wenn wir einem Neuanfang in lebendiger Erfahrung des Lebens begegnen, erscheint er uns wie ein Wunder.
Die Tatsache, dass der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, bedeutet:
- er entzieht sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit (Das Unwahrscheinliche bekommt eine gewisse Wahrscheinlichkeit.
- das, was rational (im Sinne des Berechenbaren) nicht zu erwarten ist, darf doch erhofft werden.
Die Begabung für das Unvorhersehbare beruht ausschließlich auf der Einzigartigkeit, durch die sich jeder von jedem unterscheidet ist. Die Einzigartigkeit ist nicht so sehr ein Tatbestand bestimmter Qualitäten oder der einzigartigen Zusammensetzung bereits bekannter Qualitäten in einem Individuum, sondern beruht auf der Tatsache der Gebürtlichkeit, kraft derer jeder Mensch einmal als ein einzigartig Neues in der Welt erschienen ist. Handeln als Neuanfang entspricht der Geburt eines Jemand, es realisiert in jedem Einzelnen die Tatsache des Geborenseins. Sprechen wiederum entspricht der in dieser Geburt vorgegebenen absoluten Verschiedenheit. Es realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die darin besteht, dass Wesen von einzigartiger Verschiedenheit sich von Anfang bis Ende immer in einer Umgebung von ihresgleichen befinden (vgl. Arendt, 1999, S. 34).
Soweit die Gedankenwelt von Hannah Arendt. Sie spricht vom Menschsein und der Einzigartigkeit des Individuums durch Handeln und Sprechen.
Das Aufscheinen dieser Einzigartigkeit ist also nur durch Agieren möglich und der spontanen Momente, die sich aus Einzelentscheidungen während des Handelns ergeben. Aus der Perspektive dieses philosophischen und eher übergeordneten Zusammenhangs, wird durch Erlebnispädagogik in der Großstadt aktives In-Erscheinung-Treten gefordert. Die Teilnehmer sind angehalten aus ihrer Passivität, herauszutreten um die Initiative zu ergreifen. Durch Sprechen und Handeln übernehmen Menschen Verantwortung für ihr Leben. Genau an diesem Punkt knüpft Erlebnispädagogik an, indem sie mit dem Reiz von Herausforderungen und der anregenden Natur von Aufgaben und Problemen arbeitet und somit letztlich ihre Adressaten befähigt, ihre eigene Lebenswelt verantwortlich zu gestalten. Aktion und Kommunikation sind in diesem Zusammenhang die zentralen Kategorien. Der Antrieb, der mit unserer Geburt in die Welt kam und dem wir durch unsere Eigeninitiative immer wieder entsprechen, indem wir etwas Neues anfangen, wird von City Bound gleichsam als Ressource bemüht und aktiviert. Denn es scheint, dass dieser Antrieb, der zweifellos in uns allen existiert, bei vielen Menschen im Verborgenen liegt, aber dennoch jederzeit zum Leben erweckt werden kann. Indem wir handeln, fangen wir etwas Neues an, so das unsere Einzigartigkeit aufscheinen kann. Jede Aktion setzt etwas in Bewegung und lässt uns den eigenen Anteil am Werden der Dinge spüren. Durch unsere Fähigkeit Initiative zu ergreifen, sind wir in der Lage, Akzente zu setzen. Diese Tatsache lässt uns zu Personen werden und unterscheidet uns letztlich vom Tier. Jeder Anfang ist unvorhersehbar und lässt uns die Einzigartigkeit des Ereignisses und mithin des Einzelnen staunend betrachten. Alle Voraussagen werden widerlegt, denn durch einen Neuanfang wird das Unwahrscheinliche wahrscheinlich und nicht zu berechnen. Überraschende Geschehnisse bereichern so unsere Erfahrungswelt.
City Bound ist Anregung zum aktiven Tätigsein. Was kann es Befriedigenderes geben, als die Erfahrung, durch einen Neuanfang das eigene Geborensein zu realisieren, sich in seiner Einzigartigkeit zu erleben und sich seiner Selbstwirksamkeit gewahr zu werden. Diese Erfahrung ist wesentlicher Teil aller Entwicklungsaufgaben, vor die wir als Menschen gestellt werden und die wir letzthin zu bewältigen haben.
3.3. Eigene Praxiserfahrung mit City Bound
Während meiner Erzieherausbildung war es notwendig, methodische Übungen in einem Kindergarten abzuleisten. Dazu habe ich mir Übungen ausgedacht, die ich für die 3 – 6 jährigen Kinder für angemessen hielt und diese dann unter der Beobachtung meiner Mentorin und den anderen Auszubildenden durchgeführt. Zunächst waren diese Übungen sehr theoretisch und für die Kinder viel zu abstrakt. Ich erklärte die Aufgaben vor dem eigentlichen Beginn zum Teil bis zu fünf Minuten lang den mit offenen Mündern vor mir sitzenden Elementarkindern, die grundsätzlich zu allem bereit waren, wenn sie mich nur verstanden hätten und strapazierte ihre begrenzte Aufmerksamkeit bis aufs Äußerste. Anschließend begann dann die praktische Phase und es wurde gebastelt, geknetet und gemalt. Doch alles in allem waren die Übungen immer eher undynamisch, einseitig, sogar zäh und für alle unbefriedigend. Von Mal zu Mal jedoch wurde ich sensibler im Umgang mit den kleinen Kindern, vereinfachte meine Sprache, verkürzte die ewig langen Vorreden und konnte immer besser auf ihre Bedürfnisse eingehen. Ein wesentlicher Aspekt, den ich bis dahin vernachlässigt hatte, war, dass ich die Kinder mit meinen Übungen nicht ganzheitlich angesprochen habe. Erst in meiner finalen Übung verband ich das Gelernte zu einer gelungenen Mischung aus sinnlicher Erfahrung. Ich erzählte die Geschichte von zwei Vögeln, die sich zum ersten Mal begegnen, während die Kinder mit einer Pflanze und zwei Stoffvögeln den Inhalt der Geschichte nachspielen konnten. Danach wollten die Kinder über die Geschichte sprechen (das war gar nicht vorgesehen) und überlegten andere Versionen der Erzählung. Und zum Schluss sangen wir, zur Gitarrenbegleitung das Vogellied (ich glaube ca. 12x hintereinander). Alle Sinne der Kinder, ihr Denken, Fühlen, Handeln und Lernen wurden auf diese Weise angesprochen und so wurde diese Übung für alle Beteiligten zu einem schönen und lehrreichen Erlebnis. Die ersten erlebnispädagogischen Schritte im Sinne von Pestalozzis „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ (Michl, 1999, S. 12) waren getan.
Im Sommer 2004 machte ich meine erste Erfahrung mit einer von mir durchgeführten City Bound-Aktion. Als Erzieher in einem Kinderheim, machten meine Kollegin und ich mit 12 Jugendlichen (15 – 20 Jahre alt) eine Gruppenfahrt nach Waren an der Müritz. Untergebracht auf einem Zeltplatz bereiteten wir die Jugendlichen mit diversen kooperativen Abenteuerspielen auf bevorstehende Aufgaben in der Stadt vor. Wir haben während der zwei Wochen diverse City Bound-Aktionen durchgeführt, von denen ich hier nur eine, von der ich denke das sie den Ansatz exemplarisch gut verdeutlicht, schildern möchte. Den Vormittag dieses Tages hielten wir für Spiele frei, um locker zu werden und uns mit guter Laune eine bessere Ausgangsposition für die folgenden Ereignisse zu verschaffen. Wir haben für den Nachmittag zwei Aufgaben angesetzt und die Abendgestaltung ergab sich aus dem Ergebnis einer der beiden Aufgaben. Wir teilten im Losverfahren die Jugendlichen in vier Dreier Gruppen ein und gaben ihnen die Aufgaben schriftlich. Die erste Aufgabe lautete: Geht in ein Altenheim in Waren, besucht einen alten Menschen und macht ihm eine Freude. Verschenkt eine Blume, singt ein Lied, seid kreativ. Stellt anschließend folgende Fragen: Name? Alter? Lieblingsessen? Schönstes Erlebnis? Notiert Euch die Telefonnummer des Altenheims, damit wir die Richtigkeit Eurer Ergebnisse kontrollieren können.
Die zweite Aufgabe lautete: Geht in die besten und vornehmsten Restaurants der Stadt und versucht ein drei Gänge Menü (Vorspeise, Hauptgang, Nachtisch) mit Getränk für 14 Leute und 6,50 € pro Person auszuhandeln. Heute Abend gehen wir in das Restaurant mit dem besten Angebot.
Wir beleuchteten kurz die Aufgaben auf ihre Verständlichkeit hin und nach einem kurzen Austausch hinsichtlich eines behutsamen Umgangs mit Seniorenheimbewohnern, konnte es losgehen. Die Jugendlichen bekamen zwei Stunden für die Aufgaben und alle Gruppen waren vor Ablauf der Zeit zurück. Wir versammelten uns am Hafen der Stadt, setzten uns alle auf Bänke und die Gruppen begannen nacheinander ihre Ergebnisse zu präsentieren. Mit der Bewältigung der ersten Aufgabe hatte nur eine Gruppe Probleme, die, wie wir später erfuhren, gar nicht in einem Altenheim waren, sondern sich nur eine Geschichte ausdachten. Die anderen drei Gruppen hatten keine Schwierigkeiten und verschenkten einen Blumenstrauß, eine Packung Schokolade und eine Gruppe lud eine 92 jährige Frau zu einem Kaffee ins Bewohnercafe ein. Die Gruppen berichteten von durchweg positiven Gesprächen, eins war sehr langatmig, eins eher kurz und das Gespräch mit der alten Frau im Cafe war sehr spannend, denn sie erzählte wie sie im zweiten Weltkrieg vor den Nazis flüchten musste, nach Amerika ausgewandert ist und erst vor 15 Jahren zurück nach Deutschland kam, um hier ihren Lebensabend zu verbringen. Die Jugendlichen aus dieser Gruppe waren sichtlich berührt von der Geschichte der alten Frau. Danach waren wir gespannt auf die Resultate der zweiten Aufgabe. Schon die erste Gruppe hatte zwei sehr gute Angebote eingeholt. Eins beim Inder, ein anders in einem italienischen Restaurant. Sie hatten in diversen Versuchen mit Tresenkräften und Servicepersonal die Erfahrung gemacht, dass diese Personen solche Entscheidungen nicht treffen können, so dass sie sich fortan zum Chef durchfragten. Bei diesem setzten sie dann auf ihr Verhandlungsgeschick. Die zweite Gruppe hatte dem Besitzer einer deutschen Wirtschaft ein Kartoffelgericht mit Fleisch abgerungen, mit Vorsuppe und Nachtisch. Diese Gruppe beeinflusste den Besitzer mit viel weiblichem Charme und überzeugte ihn schließlich.
Die dritte Gruppe hatte Erfolg in einem Restaurant, in dem die Angestellten davon beeindruckt wurden, dass die Jugendlichen in einem Kinderheim wohnen. Und die vierte Gruppe schließlich setzte auf den Wettbewerbstrieb des männlichen Chefs einer Pizzaria. Dieser war begeistert von der Idee, den Jugendlichen zum Sieg verhelfen zu können, womit letztlich ja auch sein Restaurant gewonnen hätte. Wir reflektierten gemeinsam alle Ergebnisse, welche Erfahrungen hatten die Jugendlichen gemacht, wie haben sie sich gefühlt, was war am schwierigsten zu bewältigen usw. Dann wurde abgestimmt in welchem Restaurant wir zu Abend essen. Das beste Angebot hatten wir von der ersten Gruppe und dem italienischen Restaurant. Statt 17,80 € pro Person (laut Speisekarte) brauchten wir nur 6,50 € zahlen. Das zweite Angebot von dem deutschen Restaurant lag nur knapp dahinter. Eigentlich wollten wir nur einmal essen gehen, doch die Angebote waren so verlockend, dass wir entschieden, zwei davon in Anspruch zu nehmen.
Meine Kollegin und ich saßen auf der Bank am Hafen und waren sprachlos über die Präsentationen von unseren (durchweg stark problembelasteten) Jugendlichen. Jedes pädagogische Lob hatte sich erübrigt, denn erstens spürten die Jugendlichen, dass sie eine sehr gute Leistung abgeliefert haben und zweitens merkten sie uns an, wie erstaunt wir waren, so dass sie stolz waren auf ihre Resultate. Und wir waren es auch. Die Jugendlichen hatten in Eigenregie und ohne dass ihnen ein Erzieher über die Schulter schaut und im Notfall einspringt, verhandelt, um Preise gefeilscht, Hartnäckigkeit bewiesen, Ablehnung und Enttäuschung erfahren, sich durchgesetzt, Kommunikationsstrategien ausprobiert, innere Blockaden überwunden und die Erfahrung gemacht, die Welt durch ihr Engagement zu verändern. Von allen Methoden und Angeboten, die ich in den letzten zehn Jahren mit Kindern und Jugendlichen durchgeführt habe, waren die erlebnispädagogischen Ansätze sicherlich meine pädagogischen Highlights. Und immer habe ich in den Monaten nach solchen Aktionen erlebt, dass bei den Jugendlichen etwas zurückbleibt: ...ein bisschen mehr Wissen, ein paar neue Fähigkeiten und einige neue Erfahrungen.
3.4. Zusammenfassung und Ausblick
Handlungsorientierung und Ganzheitlichkeit, Lernen in Situationen mit Ernstcharakter, exemplarische Lernprozesse, die junge Menschen vor psychische, physische und soziale Herausforderungen stellen, Erlebnischarakter, all das sind grundsätzliche Voraussetzungen, die eine Methode beinhalten muss, will sie wirkungsvoll auf die im ersten Kapitel beschriebenen Probleme reagieren. Die Methode Erlebnispädagogik bietet diese Voraussetzungen und hat seit den achtziger Jahren immer wieder bewiesen, dass sie durch wirkungsvolle Ergebnisse ihren festen Platz in der pädagogischen Methodenlandschaft gefunden hat. Der Ansatz City Bound ist mit seiner starken Lebensweltorientierung zu einer wertvollen Ergänzung der Erlebnispädagogik geworden. City Bound zielt ab auf soziale und berufliche Integration und vor allem auf die Auseinandersetzung mit dem sozialräumlichen Kontext und dem infrastrukturellen Geflecht der Großstadt. Mit seinem hohen Aufforderungscharakter wirkt City Bound auf die Förderung von Selbstwirksamkeit, optimaler Erfahrung und Resilienz. Das Aufwachsen und Leben in der heutigen Großstadt fordert eine Vielzahl von Fähigkeiten, speziell in der Kommunikation und Interaktion und es verlangt von der Pädagogik neue und wirkungsvolle Ideen. So wird City Bound seinen Einsatzbereich sowohl in der Jugendarbeit als auch in der beruflichen Aus- und Weiterbildung haben.
Hannah Arendt zeigt auf, welche grundsätzliche Bedeutung das Sprechen und Handeln für uns Menschen hat. Kommunikation, Interaktion und Engagement sind wesentliche Teile unseres Daseins. Und es schließt sich letztlich der Kreis, denn durch Handeln und Sprechen übernehmen wir die Verantwortung für unser Leben.
4.0. Konzept für City Bound
Die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen in der Großstadt ist geprägt von Erlebnisarmut und provoziert den Rückzug in fiktive Welten. City Bound stellt das vermeintlich Selbstverständliche des Alltags permanent in Frage und schärft somit den Blick für die sozialräumliche Umwelt. Es lässt die Banalitäten und Perversitäten des urbanen Alltags aus einer völlig neuen Perspektive aufscheinen. Grundfiguren und Zielhorizonte einer handlungsorientierten Pädagogik sind es in unserem Fall, die Fassaden des Alltäglichen zu durchschauen, die Muster von gesellschaftlichen Ritualen zu interpretieren und die Codes des sozialräumlichen Mikrokosmos zu decodieren.
4.1. Ziele
City Bound reagiert auf die wachsende Erlebnisarmut von Kindern und Jugendlichen in der Großstadt. Dieser Ansatz will in erster Linie die jungen Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie, durch das Einüben von Selbstwirksamkeit, dazu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten.
Konkret lassen sich die Ziele und Lernmöglichkeiten in 4 Bereiche aufteilen:
Die Teilnehmer führen Aktionen durch, die sie in ihrem Alltag nicht unternehmen würden und überwinden damit ihre eigenen Grenzen. Auf diese Weise erweitert sich der persönliche Handlungsspielraum und ermöglicht in Zukunft flexibler zu agieren.
Alle pädagogischen Ziele werden mit der Leitidee „Lernen durch erleben“ handlungsbezogen vermittelt. Die Teilnehmer erkennen durch eigenes Erleben persönliche Strategien und Verhaltensmuster. Diese können sie bei nachfolgenden Aktionen oder im Alltag verändern. Bei den Teilnehmern findet ein Perspektivenwechsel statt. Vorurteile werden sichtbar und verändern sich. Hindernisse im Umgang mit Menschen verwandeln sich in Einfühlungsvermögen für andere. In der Begegnung mit Randgruppen wird deutlich, so etwas kann jedem, also auch mir selbst, passieren. Das Selbstwertgefühl der Teilnehmer und ihre Selbstsicherheit werden gestärkt durch das bewältigen von Aufgaben. Der Ernstcharakter und die Tatsache, während der Aktionen auf sich selbst gestellt zu sein, fordert die Selbstverantwortung der Teilnehmer.
4.2. Zielgruppenbeschreibung (Prävention/Intervention)
Schulklassen, Jugendgruppen, Auszubildende, Firmen und Einrichtungen, andere interessierte Gruppen sind die Zielgruppen von City Bound.
In erster Linie richtet sich dieses Konzept jedoch an Kinder und Jugendliche, welche in der Metropole Hamburg leben. Zum einen kann es präventiv eingesetzt werden. In Form von Klassenfahrten oder Tagesausflügen, erfahren die Teilnehmer, wie man mit Spaß Probleme lösen kann. Auf diese Weise erwerben sie wichtige Fähigkeiten im Umgang mit Herausforderungen und Schwierigkeiten.
Zum anderen kann City Bound intervenierend, als Reaktion auf drohende oder bestehende Defizite eingesetzt werden. Erhöhte Gewaltbereitschaft, schlechte Zusammenarbeit, mangelnde Kommunikation, teilnahmslose Kinder und Jugendliche in Bildungs- oder Jugendhilfeeinrichtungen sind die Auswirkungen von Erlebnisarmut, denen mit diesem Konzept entgegengewirkt wird.
Perspektivisch sind auch Zielgruppen in der Berufsaus- und Weiterbildung denkbar, sowie die Förderung von Zusammenarbeit und das Finden neuer Lösungsstrategien in der Personalentwicklung.
4.3. Angebote
Angeboten werden Kurse im Umfang von einem Tag bis zu einer Woche oder länger. Möglich ist auch die Durchführung von wöchentlichen oder monatlichen „City Bound Tagen“ über einen längeren Zeitraum. Dies geschieht dann mit einer festen Gruppe in Form von Klassenfahrten, Projektwochen oder Jugendclubtouren.
Die Kurse können enthalten:
· Kooperative Abenteuerspiele („Das Spinnennetz“, „Gefahrentransport“)
· Kooperations- und Integrationsaufgaben (Fotografiere 20 Menschen vor dem Rathaus, dabei sein muss: 1 Taxifahrer, 1 echter Hamburger, 1 verliebtes Paar, Frau mit Kind, Mann mit Hund usw.)
· Vertrauens- und Sensibilisierungsaufgaben („Vertrauenssprung“, „Entspannungsschaukel“, „Partnerbalance“)
· Stadtspiele („Die blinde Karawane“, Blind durch die Stadt und auf den Michel)
· Erkundungstouren (Vom Flughafen auf die Insel, eine Reise durch Hamburg von Fuhlsbüttel nach Finkenwerder mit dem Bus, U- und S Bahn und dem Schiff)
· Verfolgungsjagden („Jagd auf Mr. X“, mit dem Handy im Hamburger Nahverkehrsnetz)
· Entdeckungsreisen (Was macht eigentlich???: Die Müllabfuhr, die Feuerwehr, die Heilsarmee..., Darf ich mal mitmachen?)
· Zelten in der Stadt
· Unterkunft in Jugendherbergen
Alle Kursinhalte bzw. Aktionen sind themen- und schwerpunktabhängig und knüpfen nach ausgiebiger Planung an den Entwicklungsstand und die Kompetenzen der Teilnehmer an.
Die Themen und Schwerpunkte sind vielfältig und können kombiniert werden. Beispielhaft seien hier folgende aufgeführt: Interkulturelle Kompetenz, Leben mit Handycap, Fit für den Einstieg in die Berufswelt, Zivilcourage, Armut und Obdachlosigkeit, Süchte usw. Die Möglichkeiten sind schier unerschöpflich und werden individuell auf die Teilnehmer abgestimmt.
Die Teilnehmer werden methodisch auf die Aktionen in der Stadt vorbereitet. Für die „blinde Karawane“, ein Stadtspiel in dem die Teilnehmer mit verbundenen Augen, sich an den Schultern des Vordermannes festhaltend, polonaiseartig durch einen Abschnitt der Stadt bewegen und die Treppen des Hamburger Michels (Kirche mit Aussichtsturm) erklimmen, angeführt von jemandem ohne Augenbinde. Bevor dieses Spiel durchgeführt wird, spielen die Teilnehmer auf einer Wiese das Spiel „Hindernislauf“, bei dem die eine Hälfte der Teilnehmer mit verbundenen Augen Hindernisse umqueren muss, geführt nur durch die Rufe der am Rand stehenden, sehenden Teilnehmer. Diese Vorübung sensibilisiert die Teilnehmer für die folgende Realaufgabe, senkt das Risiko und erhöht die Chance für eine erfolgreiche Bewältigung der Aufgabe.
4.4. Kooperation mit anderen Einrichtungen
Sinnvoll und notwendig ist zunächst die Kooperation mit Schulen. In diesem Bereich arbeiten die Lehrer mit Sozialarbeitern/Erlebnispädagogen zusammen. Wobei der Lehrer z.B. bei Klassenfahrten als Ansprechpartner und Betreuer für die Jugendlichen zur Verfügung steht und der Sozialarbeiter/Erlebnispädagoge für die Planung und Durchführung des City Bound Projekts zuständig ist. In der Planungsphase findet eine grobe Zielorientierung mit Lehrer und Sozialarbeiter statt, die am ersten Tag des Kurses bestätigt, ggf. verändert bzw. angepasst wird.
Weitere Kooperationspartner sind Einrichtungen der offenen und stationären Jugendhilfe, in denen die Zusammenarbeit in oben beschriebener Weise mit den Mitarbeitern vor Ort verläuft.
Grundsätzlich besteht Offenheit gegenüber allen Trägern, die ein Interesse zur Zusammenarbeit haben, außer für Organisationen, deren Inhalte auf Ideologien oder Sektenkult beruhen, wie z.B. Scientology oder dergleichen.
Für die Verwaltung der Kurse und der Teilnehmer, sowie der Sicherstellung von telefonischer und persönlicher Erreichbarkeit und Repräsentation des Durchführungsträgers, ist die Anmietung von mindestens 25qm großen Geschäftsräumen vorgesehen.
Die Mitarbeiter, die für die Durchführung von City Bound-Kursen verantwortlich sind brauchen eine fundierte pädagogische Ausbildung wie z.B.: Erzieher, Sozialpädagoge o.ä., sowie eine erlebnispädagogische Zusatzausbildung.
Die Anforderungen an die Mitarbeiter umfassen im wesendlichen:
Die Durchführung von City Bound-Aktionen setzt eine verantwortliche Haltung des Leiters voraus. Speziell für die Leitung von Kindern und Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen, bedeutet das für den Leiter:
Der rechtliche Maßstab für die Erfüllung der Aufsichtspflicht ergibt sich aus den Paragraphen 1 und 9 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG):
§ 1, Abs. 1 KJHG: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftlichen Persönlichkeit.“
§ 9, Nr. 2 KJHG: „Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes oder des Jugendlichen zu selbstständigem, verantwortungsbewusstem Handeln sowie die jeweiligen besonderen sozialen und kulturellen Bedürfnisse und Eigenarten junger Menschen und ihrer Familien zu berücksichtigen.“
Eine Verletzung der Aufsichtspflicht kann nur vorliegen, wenn der oder die aufsichtspflichtige Person vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat. Vorsätzlich bedeutet, dass ein bestimmter Erfolg gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen worden ist. Fahrlässig bedeutet, dass die in vergleichbaren Situationen erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen wurde. Maßgeblich ist die Frage: Wie hätte sich ein verantwortungsbewusster Leiter nach vernünftigen Anforderungen verhalten? Es kann und muss allerdings nicht jedes nur denkbare Risiko ausgeschlossen werden.
4.8. Sicherheit
Was für den Kanutourleiter der Wurfsack (Rettungsseil), ist für den City Bound Leiter das Handy. Eine telefonische Erreichbarkeit des Leiters muss bei City Bound Aktionen gewährleistet sein, um bei einem Unfall die notwendigen Schritte einzuleiten. D.h. Sicherheitsstandart ist mindestens ein funktionsfähiges Handy, mit ausreichendem Guthaben, für jeden Gruppenleiter und in jeder Teilnehmergruppe. Zusätzlich bekommt jeder Teilnehmer eine sogenannte Notfallkarte, auf der die ständig erreichbare Telefonnummer der Gruppenleiter steht, sowie eine kurze Erklärung für Behörden, was diese Aktion bezweckt. Jeder Teilnehmer soll so eine Notfallkarte ständig mit sich führen.
Eine grundsätzliche Position zum Thema Sicherheit bei City Bound-Aktionen ergibt sich aus den Inhalten, die in den Kapiteln Mitarbeiterkompetenz und Rechtliche Aspekte aufgeführt wurden. Generell gilt:
- Gefahrenquellen sollten möglichst ausgeschaltet werden. Dennoch gibt es keinen absoluten Schutz vor Gefahren. Jedoch kann die Mobilisierung des eigenen und gemeinsamen gesunden Menschenverstandes, zusammen mit Fachwissen und Erfahrungen, einen Prozess einleiten, der vor allem für Jugendliche mit ihrer altersbedingten Unbekümmertheit und Risikofreude höchst lehrreich sein kann.
- -In jedem Fall werden vor den Aktionen Gefahrenquellen und Risiken mit der Gruppe besprochen und danach die Erfahrungen gemeinsam reflektiert. Vorbeugend ist so geklärt, dass alle möglichst gut vorbereitet sind.
- Weiterhin wählt der Gruppenleiter die Aktionen so aus, dass die eigene Fachkompetenz und das Können der Teilnehmer nicht überschritten wird. Er schätzt die Gruppe nach bestem Wissen und Gewissen in ihren Möglichkeiten ein. Der Gruppenleiter beobachtet entstehende Gruppenprozesse und Dynamiken und thematisiert diese. Den Teilnehmern wird nach Möglichkeit auch der Sinn der Aktionen verdeutlicht.
Es folgt abschließend noch eine nützliche Tabelle zur Unterstützung für das Krisenmanagement, die Christina Crowther in ihrem Buch „City Bound, Erlebnispädagogische Aktivitäten in der Stadt“, (Ernst Reinhardt Verlag, München 2005) aufführt:
Personenkreis Was ist zu entscheiden? Was ist zu tun?
Betroffener, Einschätzung der Schwere Kursabbruch für den
Unfallopfer der Verletzung. Welche Teilnehmer?
Versorgungsmaßnahmen Heimfahrt?
sind nötig? Begleiteter Arztbesuch?
Sind weitere Maßnahmen Krankenhaus?
erforderlich?
Versicherung, Polizei?
Sind andere beteiligt?
Gruppe Gruppe sofort informieren? Den nächsten Treffpunkt dazu
Aktion zu Ende führen? nutzen, um der Gruppe
Gruppe später informieren? das weitere Verfahren mit-
Tagesprogramm abbrechen/ zuteilen oder darüber zu
weitermachen? diskutieren.
Kursfortsetzung ja/nein?
Entscheidung mit/ohne
Diskussion unter den Teil-
nehmern?
Außenwelt, Information des Auftrag- Leitung allein?
Angehörige gebers, der Organisation, Krisenstab einrichten?
der Einrichtung nötig? Wer spricht mit den Medien-
Müssen Angehörige ver- vertretern?
ständigt werden? Gruppe vor den Medien
Welche Medien sind be- abschirmen.
teiligt? Wie wird mit ihnen
umgegangen?
Die Ziele, Mitarbeiterkompetenz sowie die rechtlichen Aspekte für das Konzept sind übernommen aus: „Praxishandbuch City Bound, Erlebnisorientiertes
soziales Lernen in der Stadt“, (ZIEL Verlag, Augsburg 2004) und von mir lediglich zusammengefasst und z.T. ergänzt worden.
5.0. Fazit und Bewertung
Meine Fragen waren: Ist City Bound eine Antwort auf die Erlebnisarmut von Kindern und Jugendlichen? Und ist es als Konzept praktisch einsetzbar?
Kinder und Jugendliche in der Großstadt sind vielen Einflüssen ausgesetzt und stehen unter starkem Leistungsdruck. Gleichzeitig erleben sie in ihren anregungsarmen Alltagsstrukturen immer weniger Momente, die sie geistig fördern. Dies hat zur Folge, dass sie sich in fiktive Welten zurückziehen. Sie halten den hohen Anforderungen, die an sie gestellt werden kaum noch stand und schaffen sich ihre eigenen Erfolge. Dieses Verhalten ist einerseits verständlich, andererseits schafft es oft große Probleme für die Betroffenen, wenn sie älter sind und ihr Leben verantwortlich gestalten sollen. Für die Aufgaben, die dann auf sie zukommen, wie z.B. tragfähige Beziehungen eingehen, eine Familie gründen, Erfolg im Berufsleben haben usw., sind sie schlecht vorbereitet und die Wahrscheinlichkeit zu scheitern ist groß. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland gescheitert sind steigt von Tag zu Tag. Sie ließe sich verringern, wenn in den Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche mehr Selbstwirksamkeit erfahrbar würde. Mit einem guten Gespür für den eigenen Anteil am Werden der Dinge greift man ganz selbstverständlich zur Eigeninitiative und versucht über das stete Lösen von Problemen sein Schicksal aktiv zu verändern. Alle an der Erziehung von Kindern und Jugendlichen Beteiligten sind aufgerufen, diesen Aspekt stärker zu berücksichtigen und zu fördern.
Wir alle besitzen ein Gehirn, welches sich am optimalsten unter dem Einfluss von Problemen entwickelt. Diesen Umstand gilt es als Tatsache anzuerkennen und bei der Erziehung zu berücksichtigen. Die Folge muss also sein, Kinder und Jugendliche vor Herausforderungen zu stellen, die ihnen Spaß machen und sie weder über- noch unterfordern. Denn „Wer fürs Leben motivieren will, muss den Alltag abenteuerlich gestalten.“
Ich denke, Erlebnispädagogik eignet sich mit seiner Leitidee „Lernen durch Erleben“ und seinen Möglichkeiten hervorragend, um in der heutigen Zeit das seelische Immunsystem von Kindern und Jugendlichen mit Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit zu stärken. Denn wer selbst sicher im Leben steht und auf seine eigenen Fähigkeiten vertraut, wird nicht nur mehr Erfolg haben, sondern auch weniger misstrauisch und abhängig sein und somit auch positiver anderen Menschen und der Gemeinschaft begegnen. City Bound kann sich als qualifiziertes Angebot in der Kinder- und Jugendhilfe in den Dienst von Bildung, Betreuung und Erziehung stellen. Im aktuellen Kinder- und Jugendbericht ist als Konsequenz auf Leistungsvergleichsstudien wie PISA und IGLU von individueller Kompetenz der Schülerinnen und Schüler die Rede. Der Blick ist gerichtet auf die Entwicklung der Heranwachsenden zu handlungsfähigen, kompetenten, sozialen und verantwortlichen Personen, welche auf dem Weg des Erwachsenwerdens in die Lage versetzt werden sollen, in einer unübersichtlichen Welt ihr Leben eigenverantwortlich zu regulieren. Sie müssen lernen als teilhabefähige „Ko-Produzenten“ an der Gestaltung der Familie, des sozialen Nahraums, der Arbeitswelt und der politischen Öffentlichkeit mitzuwirken. Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja welchen Beitrag die diversen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote neben der Familie hierzu leisten sollten (vgl. 12. Kinder- und Jugendbericht, 2005, S. 541).
Der Bericht spricht mir in vieler Hinsicht aus dem Herzen, unter anderem wenn er empfiehlt: Die Schule zu einem Ort umfassender Gelegenheiten und vielfältiger Anregungen zu machen. Dazu müssen lebenslagen- und altersspezifische Leistungen und Angebote der Jugendhilfe und anderer Bildungsträger eingerichtet und vorgehalten werden. Und: Das Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten muss zu einer erweiterten Kompetenzentwicklung beitragen (vgl. 12. Kinder- und Jugendbericht, 2005, S. 564). Diese Forderungen entsprechen genau den Möglichkeiten und Inhalten von City Bound, deshalb wäre eine verlässliche Integration von City Bound an Schulen zu wünschen, um die genannten Ziele zu erreichen. Die Kommission des Berichtes empfiehlt weiterhin das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure und die Gestaltung eines aufeinander abgestimmten Systems von Bildung, Betreuung und Erziehung durch den Aus- und Aufbau ganztägiger Angebote für Heranwachsende im Schulalter... Dieser markiert einen bildungspolitischen Paradigmenwechsel in Deutschland mit weitreichenden Implikationen für Schule und Jugendhilfe und deshalb als „Projekt Ganztagsschule“ bezeichnet ...
Als bildungsbedeutsame und bildungsrelevante institutionelle Orte und Angebote werden ausgewählte Leistungsbereiche der Kinder- und Jugendhilfe, der Schule sowie der sonstigen Lernwelten von Kindern und Jugendlichen im Schulalter in den Blick genommen. In diesem Rahmen geht es darum, das gesamte Spektrum vorhandener Bildungsangebote – auch kommerzielle Angebote und Leistungen – in eine Diskussion um die Weiterentwicklung und Reform öffentlicher Bildung, Betreuung und Erziehung einzubeziehen (12. Kinder- und Jugendbericht, 2005, S. 35). Es besteht also z.Z. eine konkrete Chance City Bound als flankierendes Angebot in der angestrebten modifizierten Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung zu platzieren. Umso mehr begründet sich für mich die praktische Schlussfolgerung, mich mit einem Konzept auf eben dieses Terrain zu begeben und im Sinne von Hannah Arendt in Erscheinung zu treten und so einen Anfang zu machen.